Die Kammerjäger des Internets

Seit soziale Medien als Plattform für Lügen und Propaganda dienen, kämpfen Fakten­checker gegen gefälschte Inhalte. Ein Frontbesuch bei Correctiv in Berlin.

Illustration: Sébastien Thibault

Sie nennen sich Antivaxxer. Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, etwa weil sie Angst vor den Nebenwirkungen haben. Viele begründen ihre Furcht mit vermeintlich authentischen Warnungen, die sie in Beiträgen und Videos bei Facebook, Telegram, Youtube oder in anderen sozialen Medien gesehen haben. Etwa mit jener, die am 14. Juli dieses Jahres auf der Facebook-Seite „Wahrheit gewinnt“ auftauchte: „Vollständig geimpfte Menschen haben nach offiziellen Angaben ein 885 Prozent höheres Risiko, an Covid-19 zu sterben als Ungeimpfte“, hieß es dort. Als Quelle war die britische Website The Daily Expose angegeben.

Eine Lüge, die sich wie Tausende anderer Falschnachrichten rasant und anfangs unbemerkt in den sozialen Medien verbreitete. Das Schlimme daran: Derlei Desinformation bleibt haften. Sie manipuliert die Adressaten im Sinne der Absender, prägt oder verstärkt deren Meinung. Seriöse Quellen werden dagegen immer öfter ignoriert, das belegen aktuelle Studien.

Aus dem Bemühen, glaubhafte Informationen erkennbar von Propaganda zu trennen, ist inzwischen ein neuer journalistischer Berufszweig entstanden: Faktenchecker. Zahlreiche TV-Sender, Zeitungen und Nachrichtenagenturen leisten sich eigene Abteilungen mit diesen Spezialisten. Hinzu kommen Organisationen wie Correctiv.Faktencheck, ein Ableger des spendenfinanzierten Recherchenetzwerks Correctiv, das seit 2015 existiert. Unermüdlich inspizieren die Daten- und Medienexperten die Social-Media-Plattformen und Messenger-Dienste, überprüfen Quellen, Zitate, Identitäten und weitere Details. Sie sind die Kammerjäger der virtuellen Echokammern. Nachweisbar falsche Beiträge werden von ihnen markiert, sodass Nutzer sie als Desinformation erkennen können.

Klare Kriterien, transparente Überprüfungen
„Ein Knochenjob“, sagt Sarah Thust von Correctiv.Faktencheck beim Besuch im Berliner Büro. „Seit Monaten leisten wir Überstunden.“ Rund um die Bundestagswahl habe der Strom an Falschmeldungen alle Rekorde gebrochen. Auch die dubiose 885-Prozent-Behauptung hat Thust überprüft und den entsprechenden Post als Desinformation gekennzeichnet. Sie konnte nachweisen, dass The Daily Expose die der Aussage zugrundeliegende Studie verfälscht hatte. Einer von vielen kleinen Erfolgen für die Faktencheckerin, die einst Journalistik und Psychologie in Leipzig studiert hat.

Im Auftrag von Facebook durchforsten Thust und ihre sechs Kolleginnen und Kollegen Tausende Profile, Gruppen und Seiten des Social-Media-Marktführers. Mit intensiven Recherchen – online wie offline – fördert das Team Informationen zutage, die von Nutzern der Plattform aufgestellte Behauptungen bestätigen oder widerlegen. „Wir gehen unvoreingenommen an die Sache heran“, sagt Thust, „ganz so, wie es bei vernünftiger journalistischer Arbeit üblich ist.“ Um die Überprüfungen transparent darzustellen, bewertet das Team jeden Fall anhand festgelegter Kriterien, die vom International Fact-Checking Network (IFCN) zertifiziert sind, und nennt die konsul­tierten Quellen. Das sei wichtig, so Thust, damit die Ergebnisse nachvollziehbar sind. Weltweit gehören dem IFCN, einem 2015 vom Poynter Institute in den USA gegründeten Netzwerk, derzeit 92 Presseagenturen, Universitäts­institute und Redaktionen an; Correctiv ist seit 2017 dabei.

Nicht immer lassen sich Beiträge eindeutig als falsch oder richtig klassifizieren. „Wir haben elf Kategorien aufgestellt, um möglichst trennscharf vorgehen zu können“, erläutert Thust die Bewertungsskala. Die reicht von „richtig“ über „teilweise falsch“ bis zu „frei erfunden“. Wenn längere Videobeiträge beurteilt werden müssen, sei die Einordnung manchmal schwierig. „Dann diskutieren wir das im Kollegenkreis, aber am Ende der Recherchen stand bislang immer ein eindeutiges Fazit.“ Ob Facebook die als Desinformation markierten Posts schließlich löscht, liegt im Ermessen der Plattform selbst.

Einige Fälscher oder Verbreiter reagieren überaus aggressiv, wenn sie enttarnt werden. „Beschimpfungen, Drohungen und Stalking gehören hier zum Alltag“, so Thust, „eine Kollegin wurde sogar schon physisch bedroht.“ Davon lässt sich die engagierte Faktencheckerin nicht abschrecken: „Wir können nicht zulassen, dass antidemokratische Kräfte mittels Manipulation und Lügen die Oberhand gewinnen. Die Gesellschaft braucht unsere Arbeit.“

Die Ergebnisse der Studie „Global Fears of Disinformation“ des Oxford Internet Institute (OII) geben ihr recht: Demnach haben mehr als die Hälfte aller Internetnutzer Angst, Falschmeldungen nicht zu erkennen. Eine berechtigte Sorge, so die Forscher, denn das Bombardement mit gefälschten Beiträgen zu politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Themen wird immer intensiver. Die Urheber sitzen meist in Ländern des ehemaligen Ostblocks oder China, vermuten Ermittler des Bundesamtes für Verfassungsschutz.

Ziel der Absender sei die De­stabilisierung der westlichen Gesellschaften mithilfe von Desinformation, berichten ­Alexandra ­Jousset und Philippe Lagnier in ihrem Dokumentarfilm „Propagandamaschine Social Media“, den ARTE im Oktober zeigt. Weltweit agierten demnach IT-Experten, PR-Profis und Politikberater als Erfüllungsgehilfen von Populisten und Autokraten, indem sie ausgefeilte Methoden entwickeln, mit denen Nutzer manipuliert werden können. Methoden, die erstmals 2016 bei der US-Präsidentschaftswahl und beim Brexit-Referendum zum Einsatz kamen.

Die Corona-Pandemie eignet sich offen­bar besonders gut, um mittels Desinformation Zwietracht zu säen: „Seit Februar 2020 drehen sich gut 80 Prozent der von uns überprüften Facebook-Beiträge um dieses Thema“, sagt Alice ­Echtermann, stellvertretende Leiterin bei Correctiv.Faktencheck. „Viele Posts und Kommentare verbreiten allerdings Narrative, die an Absurdität kaum zu überbieten sind“, so die Journalistin.

Im Vorfeld der Bundestagswahl stießen die Faktenchecker zudem auf Tausende gefälschte Beiträge, mit denen Politiker oder Parteien diskreditiert werden sollten. Häufigste Opfer: die Grünen und deren Kandidatin Annalena ­Baerbock. „Eine Zeit lang ploppten fast täglich Behauptungen auf, die ­Baerbock anschwärzen sollten“, sagt Fakten­checkerin Thust, „alle waren falsch.“ Ihre Erkenntnisse decken sich mit Untersuchungen, die Datenanalysten im Auftrag des SWR anstellten und die im September einen medialen Aufschrei auslösten. Sogar die New York Times schrieb, Baerbock sei „Ziel einer Desinformationskampagne der extremen Rechten“ gewesen. Dass auch nachweislicher „Schwachsinn“ oft begeistert geteilt wird, sei ein Indiz dafür, dass es „um die Medienkompetenz der Nutzer hierzulande nicht gut bestellt“ sei, meint Alice Echtermann: „Wer falsche Inhalte weiterverbreitet, handelt entweder vorsätzlich – oder ist womöglich nicht imstande, Fälschungen zu erkennen.“

Eine aktuelle Studie der Vodafone Stiftung bestätigt ihre Annahme: Die Mehrheit der darin befragten Experten nennt mangelnde Medienkompetenz als entscheidenden Faktor, ob Desinformation bei den Adressaten verfängt oder nicht. Besonders gefährdet seien der Studie zufolge Jugendliche und ältere Menschen. Um Abhilfe zu schaffen, reiche es nicht, die Plattformen stärker in die Pflicht zu nehmen oder die Faktenchecks zu intensivieren. Vielmehr sei es nötig, spezifische Bildungsangebote zu schaffen. „Wir haben dazu Online-Kurse entwickelt“, sagt Echtermann. „Mit diesem Angebot wollen wir nicht nur Experten erreichen, sondern alle, die sich für das Thema interessieren. Vermittelt werden Methoden, die helfen, Desinformation zu erkennen.“

In einem besonders absurden Fall, den Correctiv im August untersuchte, hätte das in diesen Kursen vermittelte Basiswissen wohl nicht ausgereicht: Über Jahre hinweg erschienen auf einer Facebook-Seite, die sich als Tageszeitung NRW Kurier ausgab, Falschmeldungen zu politischen und gesellschaftlichen Themen, verfasst von Personen, die es – wie auch die Zeitung selbst – gar nicht gab. Eines der fragwürdigen Glanzlichter auf der Seite, die zeitweilig mehr als 4.000 Abonnenten hatte, war ein Beitrag über das Buch zweier Medienforscher, Titel: „Grüner Staatsstreich“. Ein angeblich promovierter Staatsrechtler lobte darin das Werk ob seiner Qualität. Allein – die drei Personen waren ebenso wie das Buch pure Erfindungen. „Die Recherche und konkrete Beweisführung dauerte mehrere Wochen“, konstatiert Echtermann.

Spuren über Nacht verschwunden
Denn als Correctiv die Seite überprüfte, verschwanden plötzlich alle Spuren über Nacht. Fühlten sich die Macher ertappt? „Davon ist auszugehen“, glaubt die Faktencheck-Expertin. Das sei in Fälscherkreisen gängig. Sie habe inzwischen den Verdacht, dass nur ein einziger Urheber dahintersteckte. „Das lassen Äußerungen vermuten, die wir von der Person, die die Seite und die Profile betrieb, per E-Mail erhielten.“ Klar sei aufgrund des Tenors der Beiträge, dass der NRW Kurier dem rechten Spektrum angehörte. Woher aber die Mittel für die aufwendig gefälschten Zeitungsbeiträge und die jahrelang akribisch gepflegten Facebook-Avatare stammten, „konnten wir leider nicht herausfinden“.

Inzwischen wurden etliche der von ­Echtermann enttarnten Profile wieder aktiviert. In den dort zu lesenden Beiträgen ist die politische Richtung der Verfasser gut zu erkennen: „Noch haben die (öko-)sozialistischen Volksvergifter die Macht, fußend auf den Bolschewistennestern in Presse, Rundfunk und Fernsehen“, schreibt etwa ­ein gewisser Heiner H., ehedem Kulturkolumnist des NRW Kuriers, in seinem Profil.
„Es wundert mich nicht, dass er zurück ist“, sagt Alice Echtermann. „Einige ­Figuren aus der Szene sind sehr hartnäckig.“

Viele gängige Narrative sind an Absurdität kaum zu überbieten

Alice Echtermann, stellvertretende Leiterin bei Correctiv.Faktencheck
Propaganda, Fake News
Sie kennen keine Skrupel: Um Populisten und Despoten zur Macht zu verhelfen, entwickeln IT-Experten, PR-Strategen und Politikberater Methoden, mit denen die politische Meinung von Social-Media-Nutzern manipuliert wird. ARTE blickt hinter die Kulissen der Ingenieure des Chaos und wirft zudem einen Blick auf die rechtsradikale Szene in Deutschland. Wer sind deren Ideengeber? Foto: Falko Korth/RBB

»Offensichtliche Fälschungen«

Als der TV-Moderator und Influencer Mirko Drotschmann im Mai das Angebot erhielt, bezahlte Fake News zu Corona-Impfstoffen zu verbreiten, wurde er schnell hellhörig. Dem ARTE Magazin schildert er, wie sich der dubiose Vorfall abspielte.

arte magazin Herr Drotschmann, Sie wurden unlängst von einer Agentur kontaktiert, die Sie dafür bezahlen wollte, vorfabrizierte Inhalte auf Ihrem Youtube-Kanal zu senden. Um welche Art von Beiträgen handelte es sich?
Mirko Drotschmann Es wären Posts bei Youtube und Instagram gewesen. Darin sollte ich sagen, dass ich Informationen hätte, wonach der Covid-Impfstoff von BioNTech/Pfizer massive Nebenwirkungen habe, an denen viele Menschen gestorben seien. Diese Informationen waren offensichtlich gefälscht.

arte magazin Wie haben Sie auf die Anfrage reagiert?
Mirko Drotschmann Ich war sehr erschrocken und wollte sofort herausfinden, wer dahinter steckte. Daher ging ich zum Schein auf das Angebot ein, machte die Sache aber auch umgehend via Twitter publik. Als die Agentur das drei Tage später bemerkte, brach der Kontakt ab. Weitere Nachfragen blieben unbeantwortet.

arte magazin Konnten Sie dennoch mehr über die Agentur und deren Hinterleute herausfinden?
Mirko Drotschmann Eine gemeinsame Recherche, an der zwei weitere Journalisten beteiligt waren, kam zu dem Ergebnis, dass die Drahtzieher der Kampagne offenbar aus Russland stammten. In wessen Auftrag sie handelten und welches Budget ihnen zur Verfügung stand, konnten wir nicht in Erfahrung bringen.

arte magazin Haben Sie nach dem Zwischenfall die Ermittlungsbehörden eingeschaltet?
Mirko Drotschmann Das musste ich gar nicht, denn die Behörden kamen direkt auf mich zu. Das Ermittlungsverfahren läuft zurzeit noch; daher muss ich darüber momentan Stillschweigen bewahren.

arte magazin War die Sache ein Einzelfall – oder bekamen Sie weitere Anfragen dieser Art?
Mirko Drotschmann Ein Einzelfall, der aufgrund der plumpen Kontaktaufnahme umso erstaunlicher war. Andere Agenturen gehen womöglich geschickter vor und fallen nicht gleich mit der Tür ins Haus.