Zurück zu alter Größe

Mehr als drei Jahrzehnte nach ihrem Ende lebt die Sowjetunion im Russland Wladimir Putins fort. Der Rückgriff auf die Geschichte bedient die Sehnsucht nach einem neuen Imperium.

Personenkult um ­Lenin und ­Stalin auf einem Propagandaplakat von 1947. Heute stehen die Referenzen an die Sowjetzeit in Russland wieder hoch im Kurs. Foto: Fine Art Images/Heritage Images/picture alliance

Am Abend des 25. Dezember 1991 wird auf dem Kreml die rote Fahne mit dem Hammer- und Sichelsymbol eingeholt. Die Sowjetunion, 1922 ebenfalls an einem Dezembertag gegründet, hört auf zu existieren. Eine abgeschlossene Geschichte – nach 69 Jahren vorbei. Die Nachwehen sind jedoch bis heute zu spüren. Spätestens seit ­Wladimir ­Putin zunächst Ministerpräsident und im Mai 2000 erstmals Präsident von Russland wird, richten sich die Blicke dort in die Vergangenheit und auf alte Größe. Nostalgisch verklärt und mit machtpolitischem Kalkül. Das Motto: Gagarin statt Gulag. Raumfahrt-Heldentum ist top, stalinistischer Terror hingegen tabu. Sowjet-Symbolik hat in diesem Kontext in Russland wieder Konjunktur. Selbst die Hymne der Sowjetunion reaktiviert ­Putin zu seinem präsidialen Amtsantritt, wenn auch mit neuem Text. 

Dass in Russland Trauer und Wut über den Verlust des sowjetischen Riesenreichs schon bei dessen Auflösung einsetzten, zeigt die dreiteilige ARTE-Dokureihe „Das Rote Imperium“. Nur direkt nach 1989 sei das historische Erbe der Sowjetunion für einen kurzen Moment als Hypothek empfunden worden, sagt Professor Klaus ­Gestwa, Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Universität Tübingen und einer der Experten in der Dokumentation, „deswegen fiel der Abschied 1991 auch ­relativ leicht“. ­Michail ­Gorbatschow (1931–2022), unlängst verstorbenes letztes Staatsoberhaupt der UdSSR, wird heute von vielen Russen beschuldigt, der Totengräber der Sowjetunion gewesen zu sein. Seine Reformprogramme Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) stellten die Weichen für Demokratie und Marktwirtschaft, in Erinnerung blieben ­Gorbatschows Landsleuten aber vor allem Chaos und Niedergang. 

Schon bald nach seinem erzwungenen Abtritt von der politischen Bühne erlebten viele Russen eine Art Schocktherapie: Die Demokratie erwies sich als defekt, die Marktwirtschaft pervertierte zur kleptokratischen Oligarchie. Orientierungslosigkeit habe die Sehnsucht nach alter Größe beflügelt, sagt Osteuropa-­Forscher ­Gestwa im Gespräch mit dem ARTE Magazin. „Die Suche nach einer russischen nationalen Idee entwickelte sich zum politischen Volkssport.“ Beteiligt hätten sich Angehörige der Administration von Russlands damaligem Präsidenten ­Boris ­Jelzin (1931–2007) und „Denker aus der rechten Schmuddelecke“ wie ­der ultranationalistische Politologe ­Alexander ­Dugin, dessen Tochter unlängst bei einem Anschlag starb. Dazu kamen Geheimdienstler und Militärs, die Silowiki, die unter einem Legitimationsverlust gelitten hätten. All diese politischen Kräfte seien von ­Wladimir Putin zusammengeführt worden, so ­Gestwa. Die Silowiki machten jüngeren Studien zufolge heute zwei Drittel der politischen und wirtschaftlichen Elite Russlands aus. Und ­Dugin gehöre zum „ideologischen Speckgürtel“ des Kremls. Wie Präsident ­Putin und viele rechtsradikale Politiker in Europa sei er ein Anhänger des Eurasien-Konzepts, das eine expansionistische Geopolitik Russlands vorsieht. ­Gestwa: „Damit rechtfertigt Putin den Dominanzanspruch über den gesamten postsowjetischen Raum, in dem Nato und EU keinerlei Interventionsrecht besitzen würden.“

Das Rote Imperium

3-tlg. Dokureihe

Dienstag, 25.10. — ab 20.15 Uhr  

bis 17.10.23 in der Mediathek

PUTINS ZIEL: DIE RÜCKKEHR DES IMPERIUMS

Dem Ziel, abermals ein russisches Imperium zu schaffen, ordnet sich alles unter. Opfer dieses Denkens ist zuvörderst die Ukraine – in den Augen des Autokraten im Kreml nur eine abtrünnige Region. Noch dazu eine, die zu Sowjetzeiten unter Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow (1894–1971) ein besonderes Stück Land erhielt: die Krim. Die Halbinsel im Schwarzen Meer sei ein Sehnsuchtsort für Russen, so der Wissenschaftler. Literarisch von Puschkin und Tolstoi verewigt, Reiseziel für Millionen Menschen, voller geschichtsträchtiger Plätze wie Simferopol, Sewastopol und Jalta. 2014 sei die Krim im Zuge der Annexion „zur Geburtsstätte der russischen Orthodoxie und Wiege der russischen Staatlichkeit überhöht worden“. Zurückholen, was ohnehin Russlands ist: Mit diesem Narrativ versammelt Putin viele hinter sich. Der Präsident und seine Polit-Technokraten hätten es verstanden, das postsowjetische Russland als einen von Schmach und Kränkung durchzogenen Emotionsraum zu modellieren, sagt Gestwa. „Nun inszenieren sie sich selbst als Therapeuten der von neo-imperialen Phantomschmerzen gebeutelten russischen Seele.“ 

Die Suche nach einer russischen nationalen Idee war ein politischer Volkssport

Klaus Gestwa, Osteuropa-Historiker