Hunger nach Nähe

Kann man Nähe verlernen? Schon vor der Pandemie mangelte es vielen Menschen an einem gesunden Maß an Körperkontakt. Dabei brauchen wir Berührungen.

Foto: Ilenia Tesoro

Das, was eine Gemeinschaft zusammenhält, ähnelt auf erstaunliche Weise dem, was uns als Menschen ausmacht. So eine Erkenntnis mag im Rückblick banal wirken, aber rückblickend ist man ja auch immer schlauer. Hätte man die meisten Menschen dagegen vor etwas mehr als einem Jahr gefragt, was ihnen selbst und der Welt eines Tages am meisten fehlen könnte, wäre die Antwort wahrscheinlich selten gewesen: Berührung. Ein Handschlag, Küsschen links, Küsschen rechts, eine Umarmung – all das schien uns lange selbstverständlich. Dann kam ein Virus, gerade mal 100 Nanometer klein. Seither wissen wir, wie groß die Sehnsucht nach Hautkontakt sein kann – mit geliebten Menschen, mit Freunden und Bekannten, manchmal sogar mit Fremden.

Berührungshunger nennen Wissenschaftler diese Sehnsucht. Davon, wie dieser Hunger unseren Alltag lange vor Corona geprägt hat, erzählt die ARTE-Dokumentation „Haut an Haut – Eine kurze Kulturgeschichte der Berührung“. Darin erfährt man unter anderem, dass es seit einer ganzen Weile einen Mangel gibt, eine Art Wackelkontakt im Verhältnis zu anderen Menschen. Zu diesem Ergebnis kam auch eine Studie des University College London, bei der zwischen Januar und März 2020 rund 40.000 Menschen aus 112 Ländern nach ihrem Verhältnis zu Berührungen befragt wurden. Etwas mehr als die Hälfte der Befragten gab damals an, Hautkontakt im Alltag zu vermissen. Nur einen Monat später, kurz nach Beginn der ersten Lockdowns in Europa, kam eine ähnliche Studie der Universität der Bundeswehr München schon auf einen Wert von 61 Prozent.

Ob in Deutschland, Frankreich, Italien oder den USA: Inzwischen gibt es fast überall auf der Welt Untersuchungen, was Kontaktverbote infolge der Corona-­Pandemie mit Menschen machen. Und fast überall berichtet eine wachsende Mehrheit von einem immer größer werdenden Hunger nach Nähe – ein Hunger, den man normalerweise stillt, indem man sich auf der Suche nach Trost bei einer Freundin anlehnt, einem Freund anerkennend auf die Schulter klopft, die greisen Eltern in den Arm nimmt. Hin und wieder auf all das zu verzichten, bekommt der Mensch hin. Aber wenn aus Hunger ein Dauerzustand wird, empfinden wir das als schmerzlich. Und so, wie der Verzicht auf Nahrung unseren Körper schwächt, schwächt ihn auch ein Mangel an körperlichem Kontakt. Ärzte beobachten inzwischen einen deutlichen Anstieg von Depressionen und Herz-Kreislauf-­Erkrankungen, die sie auf die coronabedingt fehlende Nähe zu anderen Menschen zurückführen. Denn eben diese Nähe der anderen reguliert unser eigenes körperliches und seelisches Wohlbefinden – basierend auf komplexen biochemischen Prozessen, die Forscher erst in jüngster Zeit entschlüsselt haben (siehe Die Seele streicheln).

Haut an Haut – Eine kurze Kulturgeschichte der Berührung

Kulturdoku

Sonntag, 28.2. — 22.25 Uhr
bis 27.5. in der Mediathek

Foto: Marlen Mueller

Nur wenige Minuten Körperkontakt pro Tag
Seit Jahren warnen Neurologen, Psychologen, Philosophen und Anthropologen vor einer Körperlosigkeit, für die der Mensch als soziales Wesen nicht gemacht sei. Schon zu Prä-Corona-­Zeiten kamen die meisten Erwachsenen in Europa auf gerade mal ein paar Minuten Körperkontakt am Tag. Verantwortlich sind die Digitalisierung, das wachsende Bedürfnis nach Mobilität, aber auch die Tendenz zur Vereinzelung. Die zeigt sich nirgendwo so deutlich wie beim Wohnen: In Deutschland etwa hat sich die Fläche, die ein Mensch zu Hause für sich beanspruchen kann, zwischen 1950 und heute mehr als verdreifacht. Aus ursprünglich 14 sind 45 Quadratmeter geworden.

Weil der Kontakt zu anderen nun aber die Gefahr von Ansteckung birgt, sucht das vermeintlich überlegenste Säugetier auf einmal verstärkt Kontakt zu anderen Säugetieren. So berichten Züchter seit Anfang 2020 von einem regelrechten Hunde- und Katzen-­Boom. Manche Beobachter glauben darin eine gewisse Ironie zu erkennen: Die Menschheit, die es seit Beginn der Aufklärung immer mit dem „Cogito ergo sum“ des Philosophen und Mathematikers ­René ­Descartes hielt und infolgedessen immer mehr das Denken und den Geist in den Mittelpunkt ihres Seins gerückt hat, muss erkennen, dass das denkende Ich die Nähe anderer fühlen muss, um sein zu können. Es wirkt wie der Anfang vom Ende einer körperlosen Epoche. Wie eine dringend benötigte Erinnerung daran, dass Berühren und Tasten nicht irgendeine Sinneserfahrung ist, sondern die Sinneserfahrung überhaupt: der erste menschliche Sinn, der sich im Mutterleib bildet, und der letzte, der uns verlässt. Selbst wenn der Mensch am Ende seines Lebens kaum noch sehen und hören kann, womöglich nur mit Mühe sprechen, schmecken und riechen – die Welt spüren kann er noch.

Über das existenzielle Angewiesensein auf andere Menschen hilft kein Social Distancing, kein Telefonat und Video-­Call hinweg. Es ist der Grund, weshalb gerade Singles und Alleinlebende berichten, sie kämen sich in der Pandemie „irgendwie verloren“ vor. Denn auf eine Art sind sie es tatsächlich ohne die regelmäßigen Berührungen anderer, mögen diese auch noch so zufällig und flüchtig sein. Für die Einsamkeit ist der Mensch in all seiner Verletztlichkeit aber nicht gemacht. Allein zu sein, ohne die Nähe und den Schutz von anderen zu spüren, empfinden wir als Stress und reagieren mit übersteigerter Aufmerksamkeit, Sensibilität, Ängstlichkeit, manchmal sogar Aggressivität, sagen Kognitionsforscher.

Wie sich der Berührungsmangel auf Dauer auswirken wird, kann mitten in der Pandemie niemand sagen. Was man dagegen schon lange weiß: Nicht nur Individuen sind auf Berührungen angewiesen. Studien zeigen, dass Sportteams, in denen Klapse und kurze Umarmungen die Regel sind, teamfähiger agieren und erfolgreicher sind. Ähnlich dürfte es in Arbeitsgruppen sein und im ­Freundes- und Bekannten­kreis ohnehin. Kleine Nebenbeikontakte halten menschliche Gemeinschaften zusammen. Sie wirken wie eine Art Kitt. Ob dieses Bindemittel nach der Pandemie verloren ist, ob die Gesellschaft eher weiter auseinandertreibt oder näher zusammenrückt – das müsse sich erst zeigen, sagen manche Forscher.

Vielleicht werden wir aber auch jene „Renaissance der Berührung“ erleben, die ­Laura ­Crucianelli kürzlich prophezeite. Aus Sicht der Kognitionsforscherin vom Karolinska-­Institut in Stockholm hat die Pandemie unsichtbare Narben hinterlassen. Eine Art Phantomschmerz ausgelöst durch verlorene Umarmungen, entgangene Handschläge, fehlendes anerkennendes Schulterklopfen. „Wir können es uns nicht erlauben, die Sprache der Berührung zu verlernen“, warnt ­Crucianelli. „Deshalb muss es in der Post-Pandemie-­Welt darum gehen, wie wir wieder dem Bedürfnis gerecht werden, andere Menschen zu spüren.“ Jeder und jede habe das Recht auf Berührung und das Recht, von einer Wirklichkeit zu träumen, in der wir anderen Menschen wieder nah sein können.

Wir dürfen die Sprache der Berührung nicht verlernen

Laura Crucianelli, Kognitionsforscherin