Die Schönheit der Illusion

ARTE zeigt François Ozons gefeiertes Drama „Frantz“ – mit Paula Beer in der Hauptrolle. Über Lügen, die in Kriegszeiten beim Überleben helfen, und die große Bedeutung deutsch-französischer Beziehungen.

Fotos: Jean-Claude Moireau/zdf

Wahrheit und Lüge sind im Kino schwer zu unterscheiden. Wir glauben erst einmal alles, was wir sehen – ganz gleich, ob es sich um reale oder erfundene, fiktive oder dokumentarische Bilder handelt. Diesen Umstand macht sich ­François Ozon in „Frantz“ zunutze. Er erzählt uns eine Geschichte, in der ein Mann seine Vergangenheit neu erfindet, um sein Gesicht zu wahren. Seine Erzählung ist ein Märchen, aber wir merken es nicht, weil wir sie mit den Augen seiner Zuhörer sehen. Erst als das wahre Geschehen im Bild erscheint, begreifen wir, dass wir getäuscht wurden.

„Quedlinburg, 1919“ steht unter der ersten Einstellung des Films. Wir sind in einer Kleinstadt in Deutschland: Die Verlierer des Ersten Weltkriegs pflegen ihre Wunden, grollen über ihre Niederlage und betrauern ihre Toten. Eine junge Frau, ­Anna (­Paula Beer), entdeckt auf dem Grab ihres gefallenen Verlobten Frantz einen Blumenstrauß. Er stammt von ­Adrien (­Pierre ­Niney), einem jungen Franzosen, der aus seiner Heimat nach Quedlinburg gereist ist.

Kurz darauf besucht ­Adrien die Eltern von Frantz, bei denen ­Anna als Pflegetochter lebt. Als er erklärt, er habe Frantz gekannt, bitten sie ihn, von ihrem Sohn zu erzählen, und ­Adrien berichtet, wie er Frantz vor dem Krieg in Paris getroffen hat und wie die beiden, der Deutsche und der Franzose, Freunde wurden. Und der Film buchstabiert seine Geschichte in Bildern nach.

Frantz

Melodram

Mittwoch, 10.3. — 20.15 Uhr

Schicksalhaft: Ein junger Mann (­Pierre ­Niney) legt am Grab von Annas (­Paula ­Beer) gefallenem Verlobten Frantz ­Blumen nieder. Wer ist der Unbekannte?

Der Stoff zu „Frantz“ stammt von dem französischen Autor ­Maurice ­Rostand (1891–1968) und wurde 1932 schon einmal von Ernst ­Lubitsch unter dem Titel „­Broken ­Lullaby“ verfilmt. Der deutsche Verleihtitel verriet das Geheimnis der Hauptfigur: „Der Mann, den sein Gewissen trieb“. ­Ozon dagegen bewahrt es, solange es nur geht. Allein die äußere Form der Bilder gibt einen Hinweis: ­Adriens Erzählung ist in Farbe, der tatsächliche Ablauf dagegen schwarz-weiß. Aber davon ahnt Anna nichts. Sie verliebt sich in den Fremden, und er scheint ihre Gefühle zu erwidern. Erst nach seiner Abreise offenbart ihr Adrien in einem Brief, was wirklich passiert ist. Annas Verzweiflung ist daraufhin so groß, dass sie der Mut verlässt – doch alsbald beginnt schon ein neues, kompliziertes Spiel der Emotionen. ­François ­Ozon ist einer der geschicktesten Spieler im europäischen Erzählkino.

Die Realität steht immer auf der Kippe in seinen Filmen; sie ist etwas, das ständig neu ausgehandelt wird, zwischen dem Regisseur und den Zuschauern, aber auch zwischen den Figuren selbst. In „­Swimming Pool“ (2003) hat ­Ozon von einer Krimischriftstellerin erzählt, die buchstäblich in die Welt ihres neuen Romans eintaucht. In „­Ricky“ (2009) von einem Baby mit angewachsenen Flügeln und in „Eine neue Freundin“ (2014) von einem Ehemann, der in die Kleider seiner verstorbenen Frau schlüpft und zur Geliebten ihrer besten Freundin wird. Wenn man sich auf etwas verlassen kann in ­Ozons Filmen, dann darauf, dass die uns vertrauten Erzählmuster umgedreht, die gewohnten Rollen vertauscht werden.

So auch hier. Denn ­Anna denkt nicht daran, sich mit ihrem doppelten Verlassensein abzufinden; sie fährt ­Adrien hinterher, und auf der Eisenbahnfahrt nach Frankreich begreift sie erst wirklich, was der Krieg seinem Land angetan hat. Auf dem eleganten Landsitz von ­Adriens Familie betritt sie eine Welt, die ebenso traumatisiert ist wie ihre eigene und die so wenig auf sie gewartet hat wie die deutsche Provinz auf den französischen Veteranen. Aber eben diese Erkenntnis des Fremdseins bringt ­Anna zu sich selbst und macht sie empfänglich für eine neue Liebe. Und es ist ausgerechnet ­Edouard ­Manets Gemälde eines Selbstmörders, vor dem ihr Schicksal sich wendet. Während er seinen Film in Farbe drehte, habe alles ein bisschen nach Walt Disney ausgesehen, hat ­François ­Ozon einem Zeitungsjournalisten anvertraut. Als er aber dieselben Bilder in Schwarz-Weiß erblickte, seien die Altmeister des Kinos vor seinem inneren Auge erschienen – ­Friedrich ­Wilhelm ­Murnau, Carl ­Theodor ­Dreyer und Max ­Ophüls. Diese Erfahrung schenkt auch „Frantz“ seinem Publikum.

Wir erleben die Wiederverzauberung einer Welt, die von zahllosen Kostüm­filmen und -­serien abgenutzt und auserzählt schien. Und in dieser durch Kinomagie belebten Szenerie werden noch einmal die großen Menschheitsthemen verhandelt: der Krieg, die Liebe, die Familie, das Mitgefühl, der Hass – und die Erfahrung, die die Dummheit überwindet, als wäre all das ein Stück von uns.