Atome, die nur spalten

RADIOAKTIVITÄT USA, Tschernobyl, Fukushima – wann immer die Nutzung der Kernkraft schiefging, folgten Vertuschungen. Heute ist die globale Atomindustrie aktiver denn je.

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Alles ganz harmlos“, sagten die Chefs. „Leckt eure Pinsel ruhig an, das gibt feinere Linien.“ Die sogenannten Radium Girls befeuchteten also ihr Werkzeug für die selbstleuchtenden Farben, die sie für die Ziffernblätter von Uhren verarbeiteten, mit den Lippen. Das war in den 1920er Jahren. Es dauerte nicht lange, da hatten die ersten jungen Arbeiterinnen aus den Radium-Fabriken in den USA seltene Tumoren im Gesicht. „Ich beginne meine Vorlesungen über Krebs immer mit dieser Geschichte“, sagt der französische Radioonkologe Jean-Marc ­Cosset in der ARTE-Doku „Unser Freund, das Atom“. „Es war offensichtlich, dass die Firma, die United ­States Radium Corporation, um die Gefahren wusste. Denn die Vorgesetzten der Mädchen, die Ingenieure, schützten sich selbst sehr wohl.“
Wie das Schicksal der Radium Girls zeigt: Die kommerzielle Nutzung von radioaktiven Stoffen wie Radium, von denen eine unsichtbare, aber für jedwedes Leben gefährliche ionisierende Strahlung ausgeht, war von Beginn an geprägt von Vertuschungen. Auch als Beinahe-Katas­trophen wie in Damascus, Arkansas – die ARTE ebenfalls im Juli thematisiert – und Unfälle apokalyptischen Ausmaßes wie in Tschernobyl und Fukushima folgten, reagierten die Verantwortlichen immer gleich: Sie verharmlosten die Vorfälle, hielten Informationen zurück und versuchten, die Folgeschäden anzuzweifeln.

Damascus, USA. Der GAU.

Dokumentarfilm
Dienstag, 21.7. • 20.15 Uhr
bis 18.9. in der Mediathek.

Egal, ob zivil oder militärisch genutzt: Atomkraft ist imstande, das Leben auf der Erde innerhalb kürzester Zeit komplett auszulöschen. Die international vernetzte Atomlobby, die sich ab den 1950ern rund um Kraftwerksbetreiber gebildet hat, hält dieses Risiko jedoch für kontrollierbar und investiert viel Geld, um Politiker und Bürger davon zu überzeugen, dass die Nutzung der Kernkraft sicher und notwendig ist. Und sie hat Erfolg. Mit Ausnahme von Deutschland, wo – nicht zuletzt als Konsequenz aus dem Reaktorunfall im japanischen Fukushima im Jahr 2011 – in zwei Jahren das letzte Atomkraftwerk vom Netz gehen soll, boomt die Branche in vielen Ländern ungebrochen. Weltweit sind derzeit rund 440 Kernreaktoren in Betrieb. Mehr als 50 neue Reaktoren befinden sich nach Angaben der Internationalen Atomenergie-­Organisation (IAEO) im Aufbau. Führende Vertreter der IAEO, eine technisch-wissenschaftliche Organisation innerhalb der Vereinten Nationen, bezeichnen das Festhalten an der Atomenergie sogar als alternativlos. „Es wird erwartet, dass die weltweite Stromnachfrage stark ansteigt, da viele Länder mehr Energie für ihre Entwicklung benötigen“, sagte der stellvertretende IAEO-Generaldirektor ­Mikhail ­Chudakov unlängst im Zuge einer Prognose für die Zeit bis 2050. „Ohne eine signifikante Steigerung des Einsatzes der Kernenergie wird es für die Welt schwierig sein, genügend Energie zu sichern, um eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen und den Klimawandel einzudämmen.“

Unser Freund, das Atom – Das Zeitalter der Radioaktivität

Gesellschaftsdoku
Dienstag, 28.7. • 21.55 Uhr
bis 25.9. in der Mediathek.

„Atomkraft ist technisch nicht beherrschbar“
Kernkraftkritiker widersprechen dieser Einschätzung. Das für die Kernenergie benötigte Uran sei, wie Öl und Gas, ein endlicher Rohstoff. Und Probleme wie die wachsenden Berge an strahlendem Müll, der Missbrauch der Atombombentechnologie sowie die grundsätzliche Gefahr von Reaktorunfällen seien allesamt ungelöst. „Tschernobyl und Fukushima haben bewiesen, dass Atomkraft technisch nicht beherrschbar ist. Noch viele Generationen werden mit dem Erbe dieser Technologie zu kämpfen haben“, heißt es etwa bei der Umweltschutz­organisation Greenpeace.
„Das Besondere an radioaktiver Strahlung ist, dass sie durch den Körper geht. Licht besteht auch aus elektromagnetischer Strahlung, aber die kann den Körper nicht durchdringen. Radioaktive Strahlung ist unenedlich viel stärker“, erklärt die japanische Radiologin ­Hisaka ­Sakiyama in der ARTE-Doku. „Diese Strahlung verletzt die Moleküle des Körpers und – besonders problematisch – die DNA, den Träger unserer Erbinformationen.“ Dass die Gefahr unsichtbar ist und körperliche Schäden oft erst Jahre nach einem Strahlenkontakt erkannt werden, lädt geradezu zur Verharmlosung ein. Das war bei den Radium Girls so – und kaum anders bei US-Soldaten, die 2011 mit dem Flugzeugträger „USS Ronald Reagan“ tagelang in einer radioaktiven Wolke vor Fukushima festhingen. „Die Geigerzähler unserer Nuklearspezialisten klickten, aber wir hörten nur: ‚Macht euch keine Sorgen. Alles easy!‘“, berichtet der Navy-Offizier ­Alexander ­Martin. 25 seiner jungen Kollegen von damals sind bereits gestorben, er selbst schied krankheitsbedingt aus dem Dienst aus. Und die Betreiber von Fukushima? Lehnen jede Verantwortung ab.

Ohne den Ausbau der Kernenergie wird es schwierig, den Klimawandel einzudämmen

Mikhail Chudakov, stellvertretender IAEO-Generaldirektor