BRIEFKOLUMNE

KÖRPER Auch in puncto Nacktheit scheiden sich oft die Geister auf beiden Seiten des Rheins. Über gardinenlose Fenster und hüllenlose Hintern.

Illustration: Uli Knörzer

Cher Dirk,

meine letzte Reise nach Deutschland unternahm ich vor der Invasion des unsichtbaren Feindes, der unsere Art zu arbeiten, uns zu bewegen und zu treffen so sehr veränderte. Als ich in einer eiskalten Nacht durch die Straßen Hamburgs spazierte, verblüffte mich der Anblick gardinenloser Fenster. Auch mein Liebster, der dort lebt, hat keine Vorhänge in seiner Wohnung. Nicht einmal in seinem Schlafzimmer mit der Aussicht auf einen hübschen öffentlichen Platz. Und so achte ich beim Verlassen der Dusche stets sehr genau darauf, nicht im Evakostüm am Fenster vorbeizulaufen. Selbst wenn ich mich in diesen Momenten über mich selbst mokiere, bevorzuge ich doch die für mich reizvollen Versteckspiele. Weshalb mir diese Erinnerung kommt? Weil jetzt Sommerzeit und somit Strandzeit ist – trotz der Pandemie. Da mein Partner nicht einmal als Kind in seinem heimatlichen See in Lübeck nackt zu baden pflegte, umwickelt er sich auch heute noch mit einem Tuch, um sich die Badehose abzustreifen. Von diesem benutzt er beim anschließenden Sonnenbad eine kleine Ecke, um sein Allerheiligstes zu bedecken. Und da wären wir wieder beim Gardineneffekt: Weiße Flecken auf einer braungebrannten Haut finde ich um einiges attraktiver als einen nackten Hintern unter freiem Himmel. Was mein Verhältnis zur nackten Haut angeht, so lief ich lange Zeit barbusig herum, am Meer und unter meinen Oberteilen. Es war eine feministische Geste mit einem Hauch Provokation. Am Strand fühle ich mich mittlerweile zu alt dafür. Aber da bin ich nicht die Einzige. Die Monokini-Mode scheint in Frankreich passé zu sein. Bei euch jedoch, so zumindest mein Eindruck, ist Nacktheit in der Öffentlichkeit präsenter. Doch eher im Sinne einer Lebensart à la „unbekleideter FKK-Urlauber mit Helm“ und weniger als Form der Verführung oder des Verlangens. Man könnte meinen, die Deutschen hätten eine unterschiedliche, um nicht zu sagen etwas distanziertere Beziehung zu ihrem Körper als wir Franzosen. Oder womöglich aus eurer Sicht auch nur eine natürlichere? Dies zu beurteilen, überlasse ich Dir, lieber Dirk!

Colombe

KARAMBOLAGE

Magazin
sonntags • 18.55 Uhr
alle Folgen in der Mediathek.

Liebe Colombe,

allzu gut erinnere ich mich noch an jene Verrenkungen, wie auch Dein Lebensgefährte sie vollführt. Nichts war uns Jungen am Baggersee peinlicher, als nackt dazustehen, und nichts bereitete uns mehr Vergnügen, als einander das Handtuch wegzureißen. Oft fiel der Spruch: „Hast du Angst, dass man dir was wegguckt?“ Das konnte man nur schreiend bejahen, denn die Gefahr des Diebstahls durch Blicke lauerte überall. So ungern wir Jungs uns selbst nackt zeigten, so gern linsten wir auf die anderen, um den Moment nicht zu verpassen, in dem der Vorhang sich lichtete. Vielleicht suchten wir die Gewissheit, dass nicht nur wir dieses seltsame „Teil“ hatten, wie wir es bewusst technisch zu nennen pflegten, sondern alle Jungen. Offenbar setzte dadurch bei manchen ein Gewöhnungseffekt ein, die Scham ließ nach, sogar in Anwesenheit von Frauen. Sie suchen nun gemischte Saunen auf und schwitzen dort gemeinsam, machen Urlaub an FKK-Stränden und spielen unbekleidet Volleyball. Die Freude daran möchte ich niemandem in Abrede stellen; ich selbst habe es bloß nie geschafft, das Stadium der Peinlichkeit zu überwinden. Noch immer verbarrikadiere ich mich vor dem Badengehen in einem Zelt aus Handtüchern, um mich darin umzuziehen. Und noch immer funktioniert bei mir der simple Psychotrick, wenn ich vor einer Gruppe sprechen soll: „Stell sie dir einfach nackt vor!“ Das erhebt mich innerlich über meine Zuhörer, da ich mich angezogen als würdevoller erachte. Ob meine Einstellung zur Nacktheit nun typisch deutsch ist oder gerade nicht, vermag ich nicht zu sagen. Ich geniere mich sogar, das Thema Nacktheit in größerem Kreise anzusprechen, deshalb habe ich auch keine repräsentativen Zahlen zur Hand. Ich würde aber vermuten, dass die Gesellschaft sich teilt: Die eine Hälfte zeigt gern, was sie hat, die andere verbirgt es. Doch im Gegensatz zu den vielen sozialen Spaltungen, die uns derzeit beschäftigen, sind hier zum Glück keine
Konflikte zu vermuten. Ehrlich gesagt, möchte ich auch keine Talkshow anschauen, in
der Nackte für ihre Sache streiten.
Hochgeschlossene Grüße!

Dein Dirk