Briefkolumne

Wie funktioniert Erinnerung? Woran denken wir zurück? Zu den besinnlichen Feiertagen werfen unsere Brieffreunde einen Blick in die Vergangenheit.

Illustrationen von Dirk Gieselmann und Colombe Pringle
Illustration: Elisabeth Moch

 

Liebe Colombe,

ich gratuliere Deinem Land und seiner literarischen Kultur zur Verleihung des Nobelpreises an ­Annie ­Ernaux. Gerade habe ich zum tieferen Verständnis ihres Werks ihre „­Super 8 – Tage­bücher“ auf ARTE gesehen, eine von ihr kommentierte Familienchronik der 1970er Jahre. Mich beschäftigt, wie sehr Erinnerungen an das Medium gekoppelt sind, durch das sie sich manifestieren. Im Fall von ­Ernaux ist es der Film; und es scheint mir, als würden sich mit den Bildern auch die Erinnerungen der Erstarrung widersetzen: Was auch immer sich damals bewegte, bewegt sich noch immer. Meine Erinnerungen hingegen sind meistenteils erstarrt, gebannt auf ein paar Bilder in zwei, drei Alben, konserviert wie Schmetterlinge zwischen Seidenpapier, nüchtern beschriftet von meiner Mutter: „Weihnachten 1983“ steht darunter oder „Urlaub an der Nordsee 1985“. Mangels Geld oder Interesse besaßen meine Eltern keine Film-, sondern nur eine einfache Foto­kamera. Darum beschränkt sich mein Rückblick auf solche Ereignisse oftmals auf einen Schnappschuss: Ich öffne mit leuch­tenden Augen eine Schachtel unterm Christbaum (ich weiß aber nicht mehr, was darin war). Mein Cousin und ich stehen am Strand, er hebt meine Hand empor wie ein Ringrichter die Hand eines siegreichen Boxers (ich weiß aber nicht mehr, warum er es tat). So beginnt und endet die Erinnerung in einer kurzen Sekunde, die lange vergangen ist und nur durch die Eingebung der Fotografin, dass dieser Augenblick von Bedeutung sei, dem Vergessen entrissen wurde. Was davor und danach geschah? Reine Autofiktion. Und ich frage mich: Wie würde ich mir mein frühes Leben erzählen, wenn meine Eltern gefilmt hätten? Bedingt unsere soziale Herkunft unsere Erinnerungen? Wie ist es bei Dir, liebe ­Colombe: Wie ist Deine Kindheit und Jugend archiviert worden?

Einen herzlichen Gruß aus genau dieser Sekunde sendet dir

Dein Dirk

 

Cher Dirk,

an die Weihnachten meiner Kindheit habe ich nur gute Erinnerungen. Aber keine bestimmte – ich bringe alles durcheinander. Und das aus gutem Grund: Jedes Jahr die gleiche Größe des Tannenbaums, die gleichen schillernden Glaskugeln, die ich zu schnell mit meiner kleinen Schwester in die Äste gehängt hatte, von denen mindestens eine in tausend Splitter zerbrach; und dann das genervte „Passt doch auf!“ der Mutter als einzige falsche Note. Zum Schluss stand mein Vater auf der Leiter, um die Sternschnuppe auf die Baumkrone zu stecken. Wie bei Dir gab es keine Filmkameras, also auch keine Aufnahmen. Es gibt auch keine Fotos vom Christbaumschmücken; aber wenn ich nur daran denke, stolpere ich in meinem kratzigen Morgenmantel hinter der Wohnzimmertür hervor, rieche den harzigen Duft der Tanne, sehe durch das Schlüsselloch das glänzende rote Papier der Geschenke und höre das mädchenhafte Lachen meiner Mutter. Seit ihrer Jugend führt ­Annie ­Ernaux ein Tagebuch, das ihr Werk mit eindeutigen Titeln nährt: „Die Scham“, „Der Platz“, „Der junge Mann“. Obwohl sie „keine Poesie der Erinnerung“ fordert, finden sich Millionen Leserinnen (überwiegend Frauen) in ihrem Ich wieder. Die in der „Nacktheit der Dinge“ erfassten Worte sind manchmal so lebendig wie ein Super-8-Film. Oft behaupte ich: „Ich habe kein Gedächtnis!“ Aus Provokation, aber nicht nur. Entweder habe ich vergessen, woran sich eines meiner Kinder oder meine Schwester erinnert, oder ich habe eine andere Version. Das Gedächtnis ist selektiv, jeder macht sich seinen Honig (oder Essig) aus der Vergangenheit. Statt eines einzigen Familienalbums, das in Vergessenheit gerät, habe ich jedem meiner Kinder zum 18. Geburtstag ein Album gemacht und sogar die Alben meiner Kindheit zerschnitten, um Fotos ihrer Vorfahren einzubeziehen. Erinnerungen sind auch eine Geschichte der Weitergabe. In diesem Sinne, mein lieber Dirk, wünsche ich dir ein unvergessliches Weihnachtsfest und grüße dich avec mon meilleur souvenir – mit meiner besten Erinnerung, dieser veralteten, aber sehr passenden Formulierung.

Colombe