Trotz aller Unterschiede

60 Jahre deutsch-französische Freundschaft. Weiter so, denn ohne einander können die beiden großen europäischen Nationen ohnehin nie mehr, sagt unser Autor.

Collage mit Emmanuel Macron und Angela Merkel
Illustration: Nazario Graziano

Es gibt immer wieder diese Momente, in denen ich staunen muss. Staunen darüber, dass wir überhaupt so weit gekommen sind mit den deutsch-französischen Beziehungen, der deutsch-französischen Freundschaft oder den deutsch-französischen Familien. So unterschiedlich sind die Weltbilder, die imaginäre Geografie und die Vorstellungen vom guten Leben. In Frankreich trumpft die Höflichkeit, die formvollendete Rücksichtnahme über alle anderen Werte des sozialen Miteinanders. Noch beim Baden im Atlantik, wenn alle in Schwimmkleidung in den Wellen stehen, wird sich entschuldigt, wenn die Wucht des Wassers den einen in die Beine der anderen spült wie eine Bowlingkugel in die Kegel: „Pardon Monsieur, Pardon Madame!“ Wo es hier übertrieben ist, kann es dort zu wenig sein: Wenn sich Menschen an einem vorbei durch den Gang des deutschen Großraumwagens drücken möchten, es aber wegen des Gepäcks zu eng ist und nicht geht, aber sie sagen nicht mal etwas. Nicht mal: „Darf ich vorbei?“ Die allgegenwärtige Plauderei und die drückende deutsche Stille ergeben bisweilen eine produktive Situation; manchmal geht es aber auch gehörig schief. Einmal hatte ich im schönen Luxemburg ein Podium zwischen dem eloquenten Autor ­Didier ­Eribon und dem deutschen Soziologen Heinz Bude zu moderieren. Beide sind faszinierende Persönlichkeiten, aber gemeinsam auf der Bühne ergaben sie ein asynchrones Duo. Während ­Bude respektvoll schwieg, verfiel ­Eribon in einen Eingangsmonolog. Der wurde immer länger, denn ­Eribon musste annehmen, dass ­Bude noch nachdenkt oder nicht in Form ist. Er sah es als seine Aufgabe an, ausführlich und unterhaltsam weiterzureden. Ich musste dem schweigenden Deutschen einen zarten Hinweis geben, dass es absolut okay sei, zu reden, während der andere noch redet. Es gäbe sonst gar kein französisches Fernsehen, denn das besteht zu einem großen Teil aus Redesendungen, in denen alle zugleich reden.

Das Staunen ist im Sommer besonders heftig: Alljährlich findet in der Feriensiedlung, in der ich seit meiner Kindheit den Urlaub verbringen darf, die assemblée générale der Miteigentümer statt. Es ist eine stundenlange Sache, die – betrachte ich sie mit meinem deutschen Sinn – zugleich streng nach Protokoll und maximal anarchisch abläuft.

Thementag: Deutschland – Frankreich: Ziemlich beste Freunde

am 21.1.

in der Mediathek

 

Die Höflichkeit regiert alles

Die Titel der Personen sind sehr wichtig, die Höflichkeit regiert alles, selbst die heikelsten Momente, in denen es um viel Geld geht. Als einmal eine neue Mitarbeiterin der Immobilienverwaltungsfirma eine Bilanz vorstellte, in der beträchtliche Summen fehlten und die Belege entweder nicht vorhanden oder nicht einsehbar waren, da hätte man in den meisten mir bekannten deutschen Vereinen mehr oder weniger direkt die Polizei gerufen. Dort in der südwestfranzösischen Provinz wurden die Missstände zwar auch gerügt, aber zuallererst betonten alle Redner, dass sie nicht ihr persönlich einen Vorwurf machen würden – sie, diese Dame, sei über jeden Zweifel erhaben. In meinem deutschen Sinn kam die Frage auf, woher man es so genau wissen möchte, schließlich waren die Vorgänge noch gar nicht untersucht worden. Aber die galante Bewältigung der heiklen Situation war wichtiger als die Klärung der offenen Fragen. Nun gibt es einige, sehr wenige deutsche Familien, die in dieser Eigentümerversammlung Sitz und Stimme haben. Sie melden sich, um auf Widersprüche in den Beschlüssen, auf Nachlässigkeiten und Inkohärenzen hinzuweisen und ganz generell Ratschläge zur zügigen Umsetzung der diskutierten Projekte zu geben. Diese Wortbeiträge werden dann von allen anderen gelobt, Dank wird ausgesprochen, aber dann fährt man wie gehabt fort, denn es ist ja die kommunikative und soziale Dimension der Veranstaltung, die im Vordergrund steht. Jahr um Jahr werden Probleme vertagt und wieder begrüßt wie entlaufene Haustiere. So bleibt alles beim Alten.

Ich kann mir nach solchen Sitzungen oft gar nicht mehr vorstellen, dass Deutsche und Franzosen irgendetwas zusammen bewerkstelligen können, etwa eine gemeinsame Währung, den Airbus oder den Alltag in Familien und Freundschaften – und doch ist das ja jeden Tag wunderbarerweise der Fall. Weltweit dürfte es die intensivste Beziehung zwischen zwei so verschiedenen Kulturen sein.

Längst geht es nicht mehr ohne. Nur gemeinsam sind Deutschland und Frankreich in einer globalisierten Welt überhaupt wahrzunehmen. Es ist so, dass der französische Präsident und der deutsche Kanzler ohne einander kaum etwas Wichtiges vermögen. Leider ist es noch nicht so, dass die beiden wichtigen Personen zusammen oder je einzeln auch mal im anderen Land im Fernsehen erscheinen, Bürger treffen und sich befragen lassen – obwohl es längst Zeit wäre dafür. Der gemeinsam zurückgelegte Weg ist atemberaubend lang und gewunden, aber mir ist es längst nicht genug.

Ich bin ein Ultra in den deutsch-französischen Beziehungen. Natürlich schätze ich den Vertrag von Aachen, die gemeinsamen Anstrengungen, die Städtepartnerschaften, den Jugendaustausch und die engen Wirtschaftsbeziehungen. Aber ich sehe vor allem, was noch möglich wäre. Erste Fremdsprache jeweils verpflichtend, ab der Grundschule, eine Quote für deutsche oder französische Produktionen in Rundfunk und Fernsehen, gemeinsame Wahllisten, Parteien und Gewerkschaften und noch mehr transnationale Medien. Es mögen Rückschläge und Umwege kommen, aber Deutschland und Frankreich wachsen weiter zusammen und werden sich, wie zuvor Bayern und Schleswig-Holstein oder die Bretagne und Savoyen in jeweiliger Eigenständigkeit in ein größeres Gemeinwesen eingliedern. Der Nationalstaat wird, wie heute die Nationalbanken, dann historische Folklore sein. Aber übereinander staunen werden wir immer noch.

Der Autor
Nils Minkmar, Journalist
Der im Saarland geborene, promovierte Historiker besitzt einen deutschen und einen französischen Pass. Nach Stationen bei FAZ und ­Spiegel ist er seit 2021 für die Süd­deutsche Zeitung tätig. Er wurde mehrfach als Kulturjournalist des Jahres ausgezeichnet.

Illustration von einem Sektglas, Tannenbaum, Bratwürsten und Gebäuden
Illustration: Nazario Graziano

»Sauerkraut und Disziplin«

Interview von Oliver de Weert

Als Grenzland am Rhein steht das Elsass wie keine andere Region für die wechselvollen deutsch-französischen Beziehungen. Der Straßburger Jurist Jean-Marie Woehrling, Vorsitzender der René-­Schickele-Gesellschaft, versteht sich als kultureller Brückenbauer. Der Verein setzt sich seit 1968 für Erhalt und Pflege von Dialekten sowie ­Standarddeutsch als Zweitsprache in Elsass und Ostlothringen ein.

ARTE MagazinVom Elsass wird gern als dem „Land dazwischen“ gesprochen. Wie sehen das die Menschen dort selbst?

Jean-Marie Woehrling Die Elsässer fühlen ihre Identität, aber meist folgt daraus keine tiefgreifende Auseinandersetzung. Gemeinsam ist vielen eine gewisse Zerrissenheit. Im Volkslied „D’r Hans im Schnokeloch“, unserer inoffiziellen Hymne, heißt es: „Un was er hat, das will er nit / Un was er will, das hat er nit.“ Der Kabarettist ­Germain ­Muller hat es einmal auf den Punkt gebracht: „Im Elsass ist immer das Gegenteil wahr.“

ARTE Magazin Wiederholt war das Elsass ein deutsch-französischer Konfliktherd. Wie wirkt sich diese belastete Geschichte aus? 

Jean-Marie Woehrling Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Frankreich das Elsass mit Misstrauen betrachtet, viele Elsässer wurden wegen vermeintlicher Deutschfreundlichkeit verfolgt, auch wenn sie keine Nazis gewesen waren. Ziel der französischen Kulturpolitik war es, das Deutsche auszurotten. Gegen all das konnten sich die Elsässer nicht erfolgreich zur Wehr setzen. Das hat lange nachgewirkt, mitunter bis heute.

ARTE Magazin Wie ist jetzt das Verhältnis zum übrigen Frankreich? 

Jean-Marie Woehrling Alle Elsässer wollen Franzosen sein, sogar besonders loyale, 150-prozentige. Aber daneben wollen sie auch Elsässer bleiben und eine Anerkennung regionaler Eigenständigkeit. Da zeigt sich einmal mehr der Widerspruch. Zudem leben wir in einem zentralistisch aufgestellten Land mit dem Grundsatz der Einheitlichkeit. Wenn ein Landesteil anders sein will als die Republik, ist das auch ein Problem.

ARTE Magazin Und wie sieht es mit dem Nachbarn Deutschland aus? 

Jean-Marie Woehrling Ganz klar, die Elsässer wollen keine Deutschen sein. Aber sie sprechen einen deutschen Dialekt, sie haben 700 Jahre lang deutsche Geschichte eng miterlebt, und ein Großteil der Merkmale, die als typisch elsässisch gelten, ist auch typisch deutsch – von Fachwerkhäusern über das Sauerkraut bis zur Disziplin. Positiv kann man sagen, dass wir immer ein Bindeglied zwischen den Kulturen waren. Darin liegt unser größter Reichtum, und das sollten wir bewahren.

ARTE MagazinWie steht es um dieses Erbe?

Jean-Marie Woehrling Leider nicht gut. Keine Bevölkerungsgruppe hat so schnell ihre eigene Sprache verloren wie wir. Sie wurde nicht an die Kinder weitergegeben. In Umfragen sprechen sich die Leute für den Erhalt von Elsässisch und Deutsch aus, aber sie tun nichts dafür. In der Nachkriegszeit war es fast unmöglich, sich zu seiner Liebe zur deutschen Sprache oder Literatur zu bekennen. Das ist vorbei. Die 68er-Generation und ihre Nachfolger haben sich weitgehend von diesem Druck befreit.

Die Elsässer

4-tlg. Serie

Samstag, 21.1. —

ab 10.00 Uhr