»Die Heilung beginnt jetzt«

Im 19. Jahrhundert machte sich Europa die Welt untertan. In Kolonien wurde Kunst gesammelt, kreiert – und geraubt. Wie geht man damit um? Ein Gespräch mit der namibischen Designerin Cynthia Schimming und der Kuratorin Julia Binter.

Expressionismus, Gemälde, Emil Nolde
Kulturwandel: Während Expressionisten die Kolonialisierung ausblendeten – hier: Emil Noldes „Palmen am Meer“ (1914) – entstehen heute kreative Konzepte zur Aufarbeitung, etwa Cynthia Schimmings Werk im Humboldt Forum. Foto: Nolde Stiftung Seebüll_ NDR

Das unlängst eröffnete Berliner ­Humboldt Forum sorgt mit seinen außereuropäischen Sammlungen für Aufsehen – auch aufgrund der Diskussion um die Rückgabe afrikanischer Kulturgüter. Wie kuratiert man Kunst, die offenkundig Zeugnis kolonialer Ausbeutung ist? Wie arbeitet man den weißen Blick auf, den ARTE in einer Dokumentation kontextualisiert? Kuratorin ­Julia ­Binter und Designerin ­Cynthia ­
Schimming diskutieren kreative Herangehensweisen.

arte magazin Warum beschäftigen sich europäische Museen erst jetzt mit der Herkunft ihrer Kunstwerke?
Julia Binter Mit der Herkunft an sich haben sich Museen fast immer beschäftigt. Die Frage ist, unter welchen Gesichtspunkten. In den vergangenen Jahren gab es eine zunehmend macht- und kolonialkritische Auseinandersetzung mit den Sammlungsgeschichten und der teils unrechtmäßige Erwerb wurde thematisiert. Das sehe ich als große Veränderung.

arte magazin Gehört geraubte Kunst in ihre Herkunftsländer?
Cynthia Schimming Auf jeden Fall. Sobald wir in Namibia den Platz haben und unsere Museen bereit sind, sich um die Objekte zu kümmern, sollten alle geraubten Kunstschätze zurückkehren.
Julia Binter Neben der Erwerbsart beschäftigt uns die Frage, warum die Objekte heute von Bedeutung sind und wie Menschen in Namibia mithilfe dieser Objekte Neues erschaffen können.

arte magazin Europäische Künstler reisten lange Zeit in die Kolonien, um Kunst zu kreieren, so auch die Expressionisten Max Pechstein und Emil Nolde zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wie äußert sich hier der weiße Blick?
Julia Binter Die Künstler der Moderne waren Kinder ihrer Zeit. Sie nutzten die kolonialen Infrastrukturen und zogen Kunst aus aller Welt als Projektionsfläche für ihre eigenen Vorstellungen eines von der Industrialisierung unberührten Paradieses heran, das sie als Gegenmodell zur europäischen Moderne imaginierten. Die kolonialen Kontexte blendeten sie dabei aus. Künstler wie Pechstein oder Nolde haben mit ihren Werken zu exotistischen, teils rassistischen Vorstellungen über das vermeintlich Fremde in der Kolonialzeit beigetragen.

Der weiße Blick: Expressionismus und Kolonialismus

Kulturdoku

Sonntag, 14.11. — 16.10 Uhr
bis 11.2.2022 in der Mediathek

arte magazin Welche Auswirkungen hatte diese europäisch geprägte Perspektive für die afrikanische Kultur?
Cynthia Schimming Sie hat sich übertragen. Besonders in Namibia waren wir sehr westlich orientiert. Ein Haus war immer ein Schloss und nie eine Hütte aus Lehm oder Holz, wenn du als Kind gezeichnet hast. So wurde es uns beigebracht. Aber das ändert sich jetzt. Wir schauen in die Kisten unserer Großeltern, um zu sehen, was es dort zu entdecken gibt. Als Namibier hatten wir lange Zeit nicht einmal Symbole. Wir müssen jetzt anfangen, uns von der westlichen Art zu lösen und zu unseren Wurzeln zurückkehren. Wir können nicht länger in der kolonialen Vergangenheit leben. Wenn wir für den Rest unseres Lebens hassen, werden wir verrückt. So wütend ich war: Der Heilungsprozess beginnt jetzt.

arte magazin Wie arbeitet man kolonialistische Artefakte auf?
Julia Binter In unserem kooperativen Forschungsprojekt lag unsere Verantwortung darin, koloniale Verstrickungen zu analysieren – auch bezogen auf den Völkermord an den Herero und Nama – und die Reise der Objekte nach Namibia zu realisieren. Dabei war es wichtig, mit der Museums Association of Namibia einen offenen Forschungsprozess zu generieren, mit Wissenschaftlern, Kuratoren und Künstlern aus Namibia.
Cynthia Schimming Für mich war es sehr traumatisch, mit den Artefakten zu arbeiten. Ich bin am Abend oft weinend nach Hause gegangen. Aber die Geschichte muss erzählt werden. Einige glauben, der Völkermord habe nie stattgefunden. Das wenige Wissen darüber haben wir von unseren Großeltern, und die wollen nicht darüber sprechen. Die koloniale Fotografie hat die namibische Landschaft oft leer dargestellt, ohne Menschen. Traditionelle Fertigkeiten sind verloren gegangen. Heute erzählen wir unseren Kindern die Geschichte – um ihnen bewusst zu machen, warum es bei uns eine Bismarckstraße gibt, warum wir deutsche Namen haben. Ich bin froh, als Herero-Enkelin meine Kunst auszustellen. Es öffnet ein Fenster, für uns alle.

arte magazin Entwertet es Kulturgüter, sie auf die Provenienzdebatte, also die Frage der Herkunft, zu reduzieren?
Cynthia Schimming Natürlich steckt viel mehr hinter den Objekten. Wir wollen, dass unsere Kinder wissen, wie sie gemacht wurden und sie weiterhin produzieren können. Spielzeuge, die früher aus Holz hergestellt wurden, werden heute aus Plastik produziert – dabei ist die ursprüngliche Version viel natürlicher. Aber wo stehen wir denn in der Debatte? Es heißt, die Museen müssen entkolonialisiert werden. Doch es darf nicht nur geredet werden, es muss etwas passieren.
Julia Binter Wir Europäer haben uns angemaßt, uns diese materielle Kultur anzueignen. Heute rücken die Verflechtungen mit Menschen in den Vordergrund. Objekte werden in ihrer Ästhetik wertgeschätzt und sind gleichzeitig ein Bündel an Beziehungen. Wir sind gerade erst dabei, diese Bündel zu verstehen.

Zur Person

Julia Binter, Provenienzforscherin
Am Ethnologischen Museum der Staatlichen Museen zu Berlin arbeitet Julia Binter mit namibischen Partnern im Projekt „Confronting ­Colonial Pasts, Envisioning Creative Futures“. Im September wurde dazu im ­Humboldt Forum eine Ausstellung eröffnet.

Cynthia Schimming, Modedesignerin
Die namibische Modedesignerin untersuchte in Kooperation mit dem Ethnologischen Museum und der Museums Association of Namibia 1.400 Artefakte aus der Sammlung in Berlin. Ihre Kunstinstallation „Ohne Titel“ wird im Humboldt Forum gezeigt.

Wir können nicht länger in der kolonialen Vergangenheit leben

Cynthia Schimming, Modedesignerin