Elegante ­Relevanz

Deutsch, französisch, europäisch ist ARTE von Beginn an. Medienjournalist Joachim Huber begleitet den Sender als kritischer Freund. Er findet ihn inspirierend – und einfach anders.

Als Schafe verkleidete Menschen, gebeugt
Als es noch Röhrenfern- seher und einen Sendeschluss gab: 1992, in seiner Anfangszeit, schickte ARTE die Zuschauer mit übereinander hopsenden Schafsmenschen ins Bett. Die kultigen Videos entsprachen dem Zeitgeist. Auch anderswo ging es damals nächtens auf dem TV-Bildschirm tierisch zu: mit Fischen. Foto: ARTE / Shutterstock

Als der französische Staatspräsident ­François ­Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl 1990 den Sender aus der Taufe hoben, ging mir ein Schauer über den Rücken. A.R.T.E. stand für „Association Relative à la Télévision Européenne“, auf Deutsch ein noch schlimmeres Monster: „Zusammenschluss bezüglich des europäischen Fernsehens“. Und dann, vom Sendestart im Jahr 1992 weg, diese Freude: ARTE ist State of the Art, besonders, geistreich, zuweilen eigensinnig. Es würde nicht wundern, wenn in einem der vielen Programmschwerpunkte die erdabgewandte Seite des Mondes untersucht würde. Diese Ausnahmeerscheinung ist Inspiration, anders fernzusehen, ein Anstifter zum Anderssein. Im geglückten Fall Fernsehen für Nichtfernseher.

Vor dem ARTE-Gebäude in Straßburg grüßt am Eingang die Skulptur „Giraffenmann“ von ­Stephan ­Balkenhol. Ein hybrides, trotz der drei Meter Größe unaggressives, rätselhaftes Mischwesen, das Ruhe ausstrahlt und zum Reflektieren auffordert. Dass auch Kontemplation hungrig macht, beweist im Inneren die Kantine, die hier keine ist, sondern ein Restaurant. So viel Frankreich muss schon sein. Da ist es nur zwangsläufig, dass ARTE in den Anfangszeiten seiner Sendungen auf die unterschiedlichen Abendessenszeiten in Deutschland und Frankreich Rücksicht nimmt. Erst das Essen, dann das Vergnügen. Für einen Fernseh-­Dandy typisch: Ausgestrahlt werden kein Sport, keine Volksmusik, keine Talkshows, dafür Philosophie (­Raphaël ­Enthoven) und „Streetphilosophy“ (­Ronja von ­Rönne), deutsch-französische Kuriositäten („­Karambolage“), ­ARTE Opéra und ­ARTE Concert, beides linear und online, in der Mediathek oder auf YouTube.

Illustration von Joachim Huber
Joachim Huber, Journalist: Der promovierte Theaterwissenschaftler ist vermutlich Deutschlands dienstältester Medienredakteur. 1990 kam er zum Berliner Tagesspiegel. ARTE begleitet er seit dem Sendestart journalistisch. Privat Serienfan und intensiver Mediatheknutzer, muss er für seine andere Leidenschaft den Kanal wechseln: die Spiele des FC Bayern München. Illustration: Elisabeth Moch

Absage an Europudding

ARTE ist deutsch-französische Fernsehkultur? Unsinn, die gibt es nicht, so wenig wie es deutsch-französische Literatur oder deutsch-französische Malerei gibt. Nein, ARTE ist deutsches, französisches, europäisches Fernsehen in sechs Sprachen. Nationale Differenzen, nationale Eigenheiten und Sonderlichkeiten dürfen weiterhin bestehen, es gilt die Absage an Europudding und deutsch-französische Kuppelei. In der Fiktion wollte ARTE 2015 mit „Das gespaltene Dorf“ und „Tag der Wahrheit“ das Gegenteil beweisen – zwei seltene Irrtümer. Denn Fernsehen braucht heimatlichen Humus, damit das Interesse der anderen am eigenen Interesse wächst. Siehe nur das Genre der Serie. „­Vigil“ (Großbritannien), „Das Haus am Hang“ (Japan), „Diener des Volkes“ (Ukraine) – solche Preziosen aus aller Fernsehwelt finden sich immer wieder im Angebot.

Wer auch immer als Präsidentin oder Präsident beziehungsweise Programmdirektorin oder Programmdirektor von ARTE fungierte und fungiert, welche Aufgabe auch immer in Straßburg oder bei den Gesellschaftern in Baden-Baden und Paris wahrgenommen wurde und wird – es ist dieses Gespür der ARTE-­Mitarbeitenden für Originalität in der Qualität, das das Programm kennzeichnet. Film, Serie, Dokumentation, Reportage: Alle Formate zeichnen sich aus durch inhaltliche Relevanz und Ernsthaftigkeit auch im leichten Stoff. Natürlich kann sich ARTE aus einem schier unerschöpflichen Themen-Reservoir bedienen, aber wer will bestreiten, dass in der Wahl die Qual inkludiert ist? Und in dem Ehrgeiz, jene Künste auf den Schild zu heben, die in anderen Programmen keinen Sendeplatz mehr haben. Also wird live aus der Mailänder ­Scala oder der Pariser ­Opéra ­Bastille gesendet. Anstrengend? Ja! Abseitig? Seit wann ist, was den Menschen wirklich ausmacht, seit wann sind Kunst und Kultur abseitig? Égalité und Elite!

Und neben aller Wachheit für akute Themen wie in der Reportage­reihe „Re:“ hat ARTE ein Gedächtnis. Ein Gedächtnis für die böse Seite der Geschichte, sei es der französische Kolonialismus oder das Menschheitsverbrechen der Deutschen, der Holocaust. Nicht nur hier weitet sich der Blick. Eine stundenlange Dokumentation über die Jahrhundertgestalt ­Muhammad ­Ali von Ken Burns, der bereits den Vietnamkrieg tiefenscharf analysiert hat, ist so bemerkenswert wie die Musiker-Biografien an jedem Freitag, Konzert inbegriffen. Wenn ARTE bei der Berlinale in die Akademie der Künste zum Empfang bittet, ist das Who’s who aus Film und Fernsehen anwesend. Natürlich der Gespräche und Geschäfte wegen – mit ARTE kann man sich einen tristen Februar-Abend sehr schön trinken. Und: Das ARTE-Bewusstsein bestimmt das ARTE-­Design, jede Pressemappe, jeder Trailer, jeder Trenner muss unverkennbar artesk sein. ARTE ist selbstverliebt, in manchen Momenten gar eitel bis zum Wallpaper-TV. Die anderen sollen bitteschön merken, dass sie nur die anderen sind.

Seit wann sind Kunst und Kultur abseitig? Égalité und Elite!

Joachim Huber, Journalist
Statue eines Menschen mit einem Giraffenkopf
Stephan Balkenhols „Giraffenmann“ steht seit 2006 vor dem ARTE-Gebäude in ­Straßburg. Der Bildhauer lebt in Deutschland und Frankreich, seine hybride Skulptur ­versinnbildlicht Fremdheit und Vertrautheit. Foto: picture-alliance / Winfried-Rothermel

Millionen Klicks in der Mediathek

Nicht wenige Leserinnen und Leser werden jetzt maulen, da schreibt ein Fan über sein Egozine. Das ist nicht falsch gedacht, doch mischt sich unter all die Freude auch ein Sehnen. ARTE ist selbst in bildungsbürgerlichen Kreisen das Fernsehprogramm, das nicht in gleicher Weise eingeschaltet wie gepriesen wird. ARTE wird oft – zu oft – als Ausrede herangezogen: „Ich habe gestern lange ferngesehen! Natürlich ARTE.“ Der Marktanteil von ­ARTE hält diesen vielfach geäußerten Geständnissen nicht stand. In Frankreich lag er 2021 bei 2,9, in Deutschland bei 1,3 Prozent – gleichauf mit dem RBB und Super RTL. Auf beiden Seiten des Rheins zeigen die Kurven seit Jahren nach oben, die Mediathek verzeichnet Millionen Zugriffe. ARTE hat sich – Hurra! – eine Fanbase herbeigesendet. Mehr Publikum wäre natürlich besser, keine Frage. Zugleich taucht die bange Frage auf, was weiteres Wachstum mit sich bringt? Erfolg, sorry, hat Folgekosten.

In den Anfangsjahren der deutsch-französischen Anstrengung gab es noch einen Sendeschluss mit hoppelnden Schafen – streng genommen Menschen in Schafskostümen, die übereinander hopsten. Das passierte in scharfer Konkurrenz zum damaligen Brandenburger ORB-Fernsehen, wo Fische durchs Fernseh-Aquarium schwammen. Schaf oder Fisch? Bis heute unentschieden – mit dem Kaminfeuer im Video nicht aufzulösen.

30 Jahre mit ARTE sind für mich 30 Jahre Fernseh-Freundschaft. Eine televisionäre Beziehung, die mich weniger alt gemacht als jung gehalten hat. ARTE und ich, wir halten zusammen, auch die nächsten 30 Jahre. Nur eine Frage bleibt wohl für immer unbeantwortet: Was haben die Gründungsväter Kohl und ­Mitterrand gesehen, wenn sie ARTE eingeschaltet haben?