Das Jahr 1995 war eines, in dem es nie langweilig wurde im deutschen Feuilleton. Drei kulturelle Ereignisse zogen besonders viel Aufmerksamkeit auf sich und prägten zum Teil wochenlang die Berichterstattung: der 100. Geburtstag Ernst Jüngers, die Veröffentlichung des von Kritik und Publikum fast durchgehend abgelehnten Romans „Ein weites Feld“ von Günter Grass und die Verhüllung des Reichstags durch Christo und Jeanne-Claude. Alle drei Ereignisse waren aus naheliegenden Gründen von hitzigen Debatten um die deutsche Vergangenheit begleitet, aber die Reichstagsverhüllung hatte mit Abstand die größte Breitenwirkung.
Diskussionen darüber wurden in der U-Bahn, in Kneipen und am Arbeitsplatz geführt. Wortreich rang das Feuilleton um die treffendste Reichstagsallegorie. Einen „Eiswürfel im Weichbild der kochenden Stadt“, einen „stummen Katafalk“ oder die „Epiphanie eines Riesenschiffes“ wollten die einen in dem hinter Stoff verschwundenen Parlamentsgebäude erkannt haben. Andere glaubten ein „Weltwunder auf Zeit“ oder eine „entzündete Masse“ gesehen zu haben – durchzogen von „sanfter Gefasstheit“, „epischer Lethargie“, „dramatischen Stimmungen“. Was die Menschen wohl sagen, wenn der Triumphbogen im September verhüllt wird – das posthume, letzte Werk von Christo und Jeanne-Claude?
Ein zentraler Aspekt des Wirkens von Christo und Jeanne-Claude, dem sich ARTE im September mit drei Filmen widmet, wird bis heute nicht oder allenfalls nebenbei zur Kenntnis genommen: die Wirkung, die Christos Kindheit und Jugend im stalinistisch geprägten Bulgarien auf die Kunst des Duos hatte. Das wohl bekannteste Künstlerehepaar des 20. Jahrhunderts, das sich stets mit Vornamen ansprechen ließ, hat die eigene Arbeit ausdrücklich als Gemeinschaftswerk definiert; aber bevor Christo und Jeanne-Claude nach ihrer ersten Begegnung in Paris im Herbst 1958 zu einer lebenslangen Liebes- und Arbeitsgemeinschaft verschmolzen, hatten beide sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Im Falle Christos entscheidend: sein Leben in Unfreiheit.
Christo Wladimirow Jawaschew kommt am 13. Juni 1935 in der bulgarischen Provinzstadt Gabrowo zur Welt. Er wird in eine privilegierte Familie hineingeboren. Der Vater Wladimir Jawaschew besitzt eine Textilfabrik; der ein Jahr zuvor gestorbene Großvater in der väterlichen Linie, der in Prag studiert und eine Tschechin geheiratet hatte, war ein berühmter bulgarischer Gelehrter und Archäologe gewesen. Christos Mutter Tzweta Dimitrowa wurde in Saloniki geboren, als diese größte Stadt der historischen Region Makedonien noch zum Osmanischen Reich gehörte. Als 1913 der griechische König Georg I. in Saloniki einem Attentat zum Opfer fällt, gerät auch Christos Großvater in Verdacht, wird verhaftet und kommt unter ungeklärten Umständen ums Leben. Die bulgarische Gemeinde wird aus Saloniki vertrieben. Christos Mutter muss nach Bulgarien fliehen.
Gewalt und Flucht als familiäres Leitmotiv setzen sich im Leben von Christo fort. Das durch die Textilfabrik des Vaters gesicherte Dasein der Familie gerät durch die Machtübernahme der Kommunisten in Bulgarien im Herbst 1944 aus den Fugen. Die Fabrik wird verstaatlicht, der Vater verhaftet. Zwar überlebt er die Haft, ist aber finanziell ruiniert und seelisch gebrochen, als er Jahre später freikommt. Erst nach dem Tode des sowjetischen Diktators Josef Stalin im März 1953 scheint sich die Lage für die Jawaschews etwas zu entspannen.
Christo wird als Student an der Nationalen Kunstakademie angenommen. Vermutlich spielen dabei auch Kontakte der Mutter eine Rolle. Sie hatte vor ihren Schwangerschaften – Christo hat zwei Brüder, von denen einer ein in Bulgarien berühmter Schauspieler ist – als Sekretärin an der Akademie gearbeitet und einen rege besuchten intellektuellen Salon unterhalten. Christo erhält in Sofia eine solide klassische Ausbildung, sein Professor Detschko Usunow gehört zu den bekanntesten bulgarischen Malern jener Zeit und ist beim kommunistischen Regime wohlgelitten, da er die Doktrin des sozialistischen Realismus in seinen Arbeiten zur Zufriedenheit der Mächtigen erfüllt. Einige Arbeiten Christos aus diesen Jahren zeugen davon, dass ihm die handwerklichen Aspekte seines Studiums keinerlei Schwierigkeiten bereiteten.
Flucht aus der Heimat – im Güterwaggon
Die politische und ästhetische Seite dagegen schon. Von den Dogmen des sozialistischen Realismus fühlt Christo sich erdrückt. „Kunst, die eine gemeine Lüge ist, zynischer Unsinn, das kann keine Kunst sein“, schreibt er in einem Brief. Als sich ihm 1956 die Chance bietet, zu Verwandten der Großmutter nach Prag zu gehen, zögert er nicht. In Prag sieht er erstmals Werke von Pablo Picasso und Joan Miró – eine Offenbarung. Jahrzehnte später berichtet Christo von einem Schwur, den er sich damals geleistet habe: „Du gehst niemals mehr zurück in dieses blöde Bulgarien, du bleibst in Prag, das liegt näher zum Westen.“
Doch trotz Picasso und Miró – auch Prag liegt auf der dunklen Seite des Eisernen Vorhangs, das zeigt spätestens die Niederschlagung des ungarischen Aufstands durch sowjetische Truppen im Herbst 1956. Die aus Bulgarien stammende deutsche Journalistin Rayna Breuer hat Briefe aus dieser Zeit eingesehen, die sich in der vom bulgarischen Geheimdienst über Christo angelegten Akte befinden.
So schrieb er aus Prag an seinen Bruder Anani, den Schauspieler, über seine Lehrer an der Sofioter Akademie: Diese seien Menschen, „die mich vier Jahre nicht verstanden haben, Menschen, die Egoisten sind, die mich erniedrigt und mir eingetrichtert haben, nur sie wüssten, wie man Kunst macht“. Für Christo steht fest, dass sich etwas ändern muss: „Ich halte es nicht mehr aus.“ Im Januar 1957 gelingt ihm die Flucht von Prag nach Wien, versteckt in einem Güterwaggon. Nach Bulgarien wird Christo nicht mehr zurückkehren. Selbst zu den Beerdigungen seiner Eltern versagt ihm das kommunistische Regime in Sofia die Einreise.
Auch wenn Bulgarien nie wieder ein Thema für Christo ist – das geistige Gepäck, das der junge Künstler 1957 mit in den Westen bringt, begleitet ihn ein Leben lang. In besonderem Maße gilt das für das in Deutschland bis heute berühmteste Werk von Christo und Jeanne Claude. In einem Gespräch im Jahr 1994 sagte Christo über das anstehende Reichstagsprojekt: „Es waren in erster Linie persönliche Gründe, die mein Interesse auf den Reichstag lenkten und mich nicht daran denken ließen, das britische oder das französische Parlamentsgebäude verhüllen zu wollen. Das hat vor allem mit meiner Angst und mit all meinen unguten Gefühlen zu tun, die ich als Flüchtling aus Osteuropa mit mir herumtrage.
Meine Existenz als Künstler verdanke ich der Tatsache, dass wir einen Kalten Krieg hatten.“ Der Kalte Krieg habe ihn tief geprägt, sagte Christo, und für ihn als Flüchtling aus dem Osten sei es besonders spannend gewesen, an einem Ort wie Berlin zu arbeiten, „wo sich der Osten und der Westen in einem solch dramatischen Renkontre gegenüberstanden“. Am Reichstag, der vor 1989 zwar hauptsächlich im Westsektor Berlins lag, mit Teilen seiner Ostfassade aber zum sowjetischen Sektor gehörte, sei diese Konstellation besonders deutlich geworden, und das habe ihn gereizt – denn letztlich gehe es seiner Frau und ihm bei ihrer Arbeit immer um die Freiheit.
Das gilt auch für das letzte, posthum verwirklichte Projekt der beiden: Die Verhüllung des Arc de Triomphe in Paris, die am 18. September startet und 16 Tage lang andauern soll, lässt sich als Abschiedsgruß eines Künstlers verstehen, der in seinem Werk die Freiheit feierte – lebenslang und nun sogar darüber hinaus.