In aller Unschuld

Tiefe Frömmigkeit und religiöser Rausch trieben Kinder und Jugendliche im Jahr 1212 zu Kreuzzügen. Dazu kam der Drang, widrigen Lebensumständen zu entfliehen. So sehr sich Kindheit in Mittelalter und Gegenwart unterscheiden: Es gibt auch erstaunliche Parallelen.

Mit Pauken und Trompeten: In der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts wurde der mittelalterliche Kinderkreuzzug romantisierend verklärt, wie diese zeitgenössische ­Darstellung zeigt. Illustration: Hulton Archive/Getty Images

Am Anfang war das Wort. Das gesprochene, denn nur so entfaltete es in einer Welt des Analphabetismus seine Wirkung. Mobilisierend, mitreißend, auch bis ins Verderben. Ostern anno 1212, so bezeugen es Quellen wie die Kölner Königschronik, rief ein Junge namens Nikolaus Kinder und Jugendliche dazu auf, mit ihm ins Heilige Land zu ziehen – unbewaffnet und ohne Erwachsene. Erklären kann ein solches Himmelfahrtskommando nur bedingungslose Glaubensverwurzelung. Und in Köln, zu Beginn des 13. Jahrhunderts populärer Wallfahrtsort mit bedeutenden Reliquien, herrschte ein regelrechter Wettstreit der Frömmigkeit.

Groß war der Wunsch nach Seelenheil und noch größer die Angst vor Höllenqualen, mit denen Pfarrer von den Kanzeln bildgewaltig drohten. „Mittelalterliches Leben war Sterbensvorbereitung“, erklärt der Berliner Theologe ­Christoph ­Markschies in der ARTE-Dokumentation „Der Kreuzzug der Kinder“. Sie geht dem historischen Gehalt der abenteuerlich anmutenden Geschichte um den jungen Prediger ­Nikolaus auf den Grund. Und einer weiteren, die im selben Jahr gut 500 Kilometer weiter westlich ihren Ausgang nahm. Dort scharte der Hirtenjunge ­Stephan aus dem Dörfchen Cloyes nahe Orléans eine minderjährige Gefolgschaft um sich. Ihm sei Jesus als Pilger erschienen, begründete er seine Mission.

Pilgern und Kreuzzüge, beides fand in der europäischen Christenheit jener Epoche breiten Widerhall. Die Päpste in Rom hatten seit dem 11. Jahrhundert immer aufs Neue dafür gesorgt, dass Heere im Zeichen des Kreuzes aufbrachen, um Muslime aus Jerusalem zu vertreiben. Das gelang mal mehr, mal weniger erfolgreich – und ging oft mit Plünderungen und Blutbädern einher. Ungeachtet dieser unchristlichen Begleiterscheinungen wurde die Kreuzzugsbotschaft fortwährend in Kirchen gepredigt.

Das Pilgern wiederum versprach zweierlei – ein besseres Leben im Jenseits und exotische Erlebnisse fern des meist harten, gleichförmigen Alltags. Dass der Tod auf den unsicheren Routen des Mittelalters stets mitreiste, nahmen viele billigend in Kauf. Gottvertrauen musste als Versicherung unterwegs genügen. Ein Kinderkreuzzug stellte gewissermaßen die Schnittmenge der Erwartungen dar: Als unschuldig und rein geltende Seelen zogen aus, um die Heiligen Stätten von Ungläubigen zu befreien. So groß war die Überzeugung, dass auch Gebirge und Meere vermeintlich keine Hindernisse darstellten. Die charismatischen jungen Prediger versprachen, dass sich die Fluten wie bei ­Moses und den Israeliten teilen und eine trockene Querung des Mittelmeeres ermöglichen würden.

Der Kreuzzug der Kinder

Geschichtsdoku

Samstag, 20.2. — ab 20.15 Uhr
bis 20.5. in der Mediathek

Ausbruch aus der Realität
Tausende oder sogar Zehntausende sollen der Kölner ­Nikolaus und der französische ­Stephan um sich geschart haben. Zahlen, die Historiker allerdings in Zweifel ziehen. Wenig bis nichts verraten die Chroniken über Herkunft und Motivlagen der Kinder und Jugendlichen. Dass sie empfänglich für die Vision eines Ausbruchs aus ihrer Lebensrealität gewesen sein dürften, liegt für die Heidelberger Entwicklungspsychologin ­Sabina ­Pauen, eine der Expertinnen der ARTE-­Dokumentation, auf der Hand. Kinder seien im Mittelalter früh auf sich gestellt gewesen, erläutert sie im Gespräch mit dem ARTE Magazin.

„Sie lebten oft schon in jungen Jahren außerhalb der Familie. Was aus unserer heutigen Sicht wie Abenteuerlust wirkt, war vielleicht eher eine Notwendigkeit, für sich selbst zu sorgen.“ In den kinderreichen Familien jener Zeit habe es nicht die „Nestwärme gegeben, wie sie heute Einzelkinder oder solche mit einem oder zwei Geschwistern bekommen“, so ­Pauen. Die Vorstellung von der „Familie als Schutzraum“ sei ein deutlich jüngeres Konstrukt.

Über alle Epochen hinweg gelte: „Kinder schauen sich an, wie das Leben läuft, und passen sich dem an. Das ist auch sinnvoll.“ Im Extremfall, etwa bei heutigen Straßenkindern in Südamerika, gehe es dabei ums Überleben. „Und sie haben erstaunlich viele Kompetenzen dafür parat“, sagt die Wissenschaftlerin. Parallelen zieht sie auch zu aktuellen Jugendbewegungen wie Fridays for Future. Das Bewusstsein, dass ihre Bedürfnisse und Belange missachtet würden, entfalte in Kombination mit einer entschlossenen Leitfigur eine ungeheure Dynamik unter Gleichaltrigen. Soziale Medien täten ein Übriges, stellt ­Pauen fest. Die Folge: „Wenn die Verhältnisse der nächsten Generation keine Aussicht auf ein zufriedenes, glückliches Leben bieten, dann macht die sich auf – ob im virtuellen Raum oder bei Kreuzzügen.“

Kinder schauen sich an, wie das Leben läuft, und passen sich dem an. Das ist sinnvoll

Sabina Pauen, Entwicklungspsychologin