Mit Glanz und Gloria

Anders als oft behauptet, war das ausgehende Mittelalter eine Zeit des Aufbruchs. Spät­gotische Kunstwerke belegen die Innovations­freude im 15. Jahrhundert.

Gotik, Kirche, Mittelalter, Kunst
Stefan Lochners „Jüngstes Gericht“. Foto: DeAgostini, Getty Images

Das Ende des europäischen Mittelalters lässt sich leicht als finstere, bedauernswerte Zeit des Verfalls deuten. Die Menschen waren geplagt von den Folgen des Hunderjährigen Krieges und der Pest-Pandemie, die ein Drittel der Bevölkerung dahinraffte. Von den Verheißungen des amerikanischen Kontinents wussten die Europäer noch nichts. Gaben sie sich deshalb unablässig apokalyptischen Vorstellungen hin und versanken kollektiv im Weltschmerz, wie etwa der Historiker ­Johan ­Huizinga in seinem Buch „Herbst des Mittelalters“ behauptet? Die Kunst des 15. Jahrhunderts, die heute als Spätgotik zusammengefasst wird, gibt viele Anlässe für ein differenzierteres, ja optimistischeres Bild. In Deutschland und den Nachbarländern waren die Jahrzehnte zwischen 1430 und 1500 eine Zeit des Umbruchs – geprägt von Innovationen, die bis heute von Bedeutung sind.

„Die Künstler erfassten immer besser, wie die Welt wirklich aussieht, und versuchten, sie so zu zeigen“, sagt ­Stephan ­Kemperdick, Kurator der Ausstellung „Spät­gotik – Aufbruch in die Neuzeit“, die von Mai bis September in der Berliner Gemäldegalerie zu sehen sein soll. Ausgehend von flämischen Malern wie Jan van Eyck und ­Rogier van der ­Weyden wurden Darstellungen von Licht und Schatten sowie körperliche und räumliche Dimensionen immer realistischer. „Die Künstler waren nun in der Lage, glänzende, spiegelnde und durchsichtige Dinge zu malen“, so ­Kemperdick, einer der Experten in der ARTE-Dokumentation „Grusel, Glaube und Genie – Gotik!“. In Deutschland war es der für den Weltgerichtsaltar und dessen „Jüngstes Gericht“ bekannte ­Stefan ­Lochner, der als einer der Ersten sowohl die menschliche Anatomie als auch Gegenstände wie Schwerter und Harnische naturgetreuer malen konnte.

Grusel, Glaube und Genie – Gotik!

Kunstdoku

Sonntag, 2.5. — 16.15 Uhr
bis 1.5.2022 in der Mediathek

Gotik, Kunst, Mittelalter
Ecclesia“ von Konrad Witz. Foto: Heritage Art, Heritage Images, Getty Images.

„Dabei ging es nicht um die tatsächlichen Lokalfarben, sondern um die Erscheinung eines Objektes im Licht“, erklärt ­Kemperdick. „Bei einer goldenen Skulptur malte man die dunkel verschatteten Partien etwa mit Dunkelbraun und die leuchtenden, spiegelnden Partien mit Hellgelb und Weiß. Auf ähnliche Weise malte man Kerzen, die zum ersten Mal tatsächlich so aussahen, als würden sie brennen. Eine Sensation für die Menschen der damaligen Zeit.“

Die künstlerischen Neuerungen trafen in der Spätgotik auf technische Revolutionen: den von ­Johannes ­Gutenberg um 1450 erfundenen Buchdruck und den etwas früher in Süddeutschland entwickelten Druck von Bildern mittels Holzschnitt und Kupferstich. Europäische Künstler konnten nun in kurzer Zeit ein großes Publikum erreichen und Ideen austauschen. „Plötzlich kam es zu einer bis dahin undenkbaren Menge an Reproduktionen, einer regelrechten Explosion an Bildern. Kupferstiche wie die von ­Martin ­Schongauer, die geschickt mit der Tiefe des Raums spielen, konnten nun zehntausendfach vervielfältigt werden und sich selbst unter einfachen Leuten verbreiten“, sagt ­Kemperdick im Gespräch mit dem ARTE Magazin.

Plötzlich kam es zu einer regelrechten Explosion an Bildern

Stephan Kemperdick, Kurator
Gotik, Kunst, Mittelalter
„Der Liebeszauber“, Werk eines unbekannten Rheinländers. Foto: picture alliance, akg-images

Furchteinflößende Monster und Dämonen
Das Narrativ des Niedergangs, das man dem ausgehenden Mittelalter anzudichten versuchte, mag in den furchteinflößenden Monstern und Dämonen begründet liegen, die spätgotische Künstler mit besonderer Derbheit und Drastik malten. Dabei gibt es genügend Beispiele, in denen die Schönheit von irdischen und jenseitigen Ereignissen ebenfalls mit nie dagewesener Emotionalität gezeigt werden.

Auffallend: Neben religiösen Motiven fand man in der Spätgotik zunehmend an profanen Alltagsszenen Gefallen – darunter idealisierte Bildnisse von Paaren und eindeutig erotisches Material wie bei „Der Liebeszauber“, das einem namenlosen „Niederrheinischen Meister“ zugeschrieben wird. „Im 15. Jahrhundert nimmt die Malerei eine starke Diesseitsbezogenheit ein. Das zeigt sich in Liebesdarstellungen, aber auch in der Hässlichkeit mancher Figuren, die ganz ungeschönt gezeigt werden“, sagt ­Svea ­Janzen vom Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Universität Jena in der ARTE-Dokumentation. Selbst die Jünger Christi, betont sie, seien teils mit groben Physiognomien zu sehen, was auf den Betrachter wirken sollte, als seien sie tatsächlich aus Fleisch und Blut. „Wie Menschen, die man auf der Straße trifft.“

Das Mittelalter weicht in der Geschichtsschreibung vom 16. Jahrhundert an der Neuzeit – und in der Kunst stellen sich von Italien aus die Weichen für die Epoche der Renaissance. Dabei machen Künstler wie ­Michelangelo und ­Albrecht ­Dürer keinen Hehl daraus, wem ihre Verehrung gilt: den Meistern der Spätgotik.