Kampf dem Keim

Hygiene war vor Corona Privatsache – oder etwas für Fachleute. Die Pandemie rückt das Thema ins öffentliche Bewusstsein. Und der Staat wird plötzlich wieder zum Erzieher.

Foto: Reg Speller, Getty Images

Das Wort verströmt den Geruch von Desinfektionsmitteln: Hygiene. In den Drogeriemärkten mit ihren langen Regalreihen voller duftiger Sauberkeitsversprechen wird es weitgehend vermieden. Eher gehört es in die Welt der weißen Kittel, der medizinischen Fachgesellschaften und Gewerbeaufsichtsämter. Nun aber hat es die Hygiene aus amtlichen Verordnungen mitten in unser aller Leben geschafft – als das große „H“ in der AHA-Formel: Abstand halten! Hygiene-­Maßnahmen beachten! Alltag mit Maske! Die deutsche Fassung des globalen Corona-Knigge. Eine überraschende Karriere für einen Begriff, der in der griechischen Mythologie wurzelt und etwas sperrig mit „die der Gesundheit dienende Kunst“ übersetzt wird.

In der Geschichte haben wiederholt erst grassierende Seuchen zu neuen Erkenntnissen und Fortschritten in Medizin und Gesundheitsschutz geführt, wie die ARTE-Dokumentation „Auf Leben und Tod – Meilensteine der Hygiene“ zeigt. Das Instrumentarium zur Vorbeugung und Bekämpfung oft tödlicher Krankheiten reichte von Quarantäneregeln und mehr Sauberkeit in Krankenhäusern bis zum Bau von Kanalisationen oder gar zur luftigen Erneuerung ganzer Stadtquartiere. Mit Erfolg: Seit Beginn des 20. Jahrhunderts gelten in Mitteleuropa Menschheitsgeißeln wie Pocken, Pest und Cholera als überwunden.

Eine Allianz aus Staat und Bürgertum begriff damals die Gesunderhaltung durch Hygiene als wichtige Aufgabe. Wissenschaft und Medizin standen hoch im Kurs. Untere Schichten sollten erzogen werden. Sozialhygiene sollte Verwahrlosung vorbeugen – nicht zuletzt, um Fabriken die Arbeitskräfte und Armeen die Soldaten zu sichern. Dann jedoch brach ab 1918 die sogenannte Spanische Grippe über die vom Ersten Weltkrieg ohnehin ausgezehrten Gesellschaften herein. Etwa eine halbe Milliarde Menschen erkrankte, jeder dritte Erdbewohner, bis zu 50 Millionen starben Schätzungen zufolge. Stärker als spätere Infektionsgeschehen brannte sich das Erlebte im kollektiven Gedächtnis ein. Kein Wunder, dass seit der globalen Ausbreitung von SARS-CoV-2 häufig historische Vergleiche zu jenen Jahren angestellt werden. Denn mit der jetzigen Pandemie sind auch alte Menschheitsängste zurückgekehrt.

Auf Leben und Tod – Meilensteine der Hygiene

Geschichtsdoku

Samstag, 20.3. – 20.15 Uhr
bis 16.6. in der Mediathek

Unsere „zivilisatorischen Selbstgewissheiten sind von der Erkenntnis verunsichert, dass sich unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle und unter der Oberfläche der öffentlichen und privaten Ordnung eine unberechenbare und unbeherrschbare Bedrohung eingeschlichen hat“, beschreibt das Klaus ­Vogel, Direktor des Deutschen Hygiene-­Museums in Dresden, gegenüber dem ­ARTE ­Magazin. „Dass aus dem Bundeskanzleramt einmal der Aufruf zum allgemeinen Händewaschen ergehen müsste – das konnte man sich vor 2020 wirklich noch nicht vorstellen“, sagt ­Vogel, der auch einer der Experten in der ARTE-­Dokumentation ist. Mit der Pandemie erlebt die Rolle des Staates in der Hygieneerziehung jetzt ein unerwartetes Revival.

Nicht nur die Deutschen hatten sich lange Zeit an klar abgegrenzte Sphären gewöhnt. Hygiene im öffentlichen Raum – vom Gesundheitswesen bis in die Gastronomie – war eine hoheitliche Aufgabe. Gab es nicht gerade Nachrichten über multiresistente Krankenhauskeime oder Gammelfleischskandale, konnte der Bürger sich beruhigt abwenden. Umgekehrt blieb der eigene Körper, wie Bad und Küche, Privatsache. Zutritt erhielten hier allenfalls multinationale Konzerne, die ihr Pflege- und Putzarsenal gegen Schmutz und Keime in Stellung brachten. Erfolgreich lancierten sie Erzeugnisse, die „nicht nur sauber, sondern rein“ oder auch „porentief“ waschen und aus Fußböden Spiegelflächen für das hygienisch ruhige Gewissen machen sollten. So erfolgreich, dass das Umweltbundesamt Verbraucher schon zur Mäßigung mahnte. Ansammlungen von Spezialreinigern seien zu vermeiden, als antibakteriell gepriesene Artikel für die Haushaltshygiene überflüssig. Und bei Desinfektionsmitteln gelte häufig: Das Risiko überwiegt den Nutzen. Selbst ein großer Versicherer warnt auf einer Familien-Ratgeberseite vor Allergien durch eine „übertrieben keimfreie Umgebung“ und gibt die bemerkenswerte Parole aus: „Schmutz schützt.“

Wie aber steht es nun um unsere Hygiene? Haben wir die Lektionen aus der Historie gelernt? Offenbar ja. Als ein Hersteller von Gesundheitsprodukten vor gut einem Jahr – noch vor Corona – die Bundesbürger nach ihren Einstellungen dazu befragte, lautete das Resümee: „Beruhigend. Deutschland tickt weitestgehend sauber.“

Ein Aufruf aus dem Kanzleramt zum Händewaschen – das konnte man sich wirklich nicht vorstellen

Klaus Vogel, Direktor des ­Deutschen Hygiene-Museums