»Kampf um Brot und Wasser«

Dürren, Brände, Unwetter: Die Erde heizt sich immer weiter auf. Klaus Wiegandt, Chef der Stiftung Forum für Verantwortung, fordert ein Ende der halbherzigen Klimapolitik und hofft auf die Macht des demokratischen Souveräns.

Foto: picture alliance/Yonhap

Nahezu wöchentlich erscheinen derzeit wissenschaftliche Studien zur Klimakatastrophe. Eine besonders realistische – und besorgniserregende – Einschätzung der zu erwartenden Auswirkungen stellte unlängst Klaus Wiegandt, Gründer der Stiftung Forum für Verantwortung, in dem von ihm herausgegebenen Buch „3 Grad mehr“ vor. Darin schildern Forscherinnen und Forscher, wie die drohende Heißzeit unser Leben verändern wird. Im Gespräch mit dem ARTE Magazin skizziert ­Wiegandt, was zu tun ist, um die Katastrophe noch abzuwenden.

arte Magazin Herr Wiegandt, lange Zeit erschien die Klimakrise vielen zu abstrakt, um etwas dagegen zu unternehmen. In jüngster Zeit wird sie jedoch immer greifbarer: Dürreperioden, Gletscherschmelze, Artensterben, Hitzewellen und Überflutungen bestimmen die Nachrichten; Millionen Menschen in Europa und anderswo spüren die Auswirkungen der Erderwärmung am eigenen Leib. Ist Ihr Buch zu spät erschienen?

Klaus WiegandtNein, es kam nicht zu spät. Viele Leute interessieren sich dafür; seit Wochen steht es auf der Bestsellerliste, die englischsprachige Ausgabe ist bereits in Arbeit. Die in dem Buch gesammelten Beiträge führender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind zukunftsweisend und zeigen klar nachvollziehbar auf, wie verheerend die Folgen einer Erderwärmung um drei Grad Celsius sein werden. Wir müssen alles tun, um eine solche Heißzeit zu verhindern.

arte Magazin Im Gegensatz zu früheren Klimaveränderungen im Lauf der Erdgeschichte, die sehr langsam erfolgten, entwickelt sich die jetzige Krise im Zeitraffertempo. Berechnungen zufolge steuern wir – selbst wenn die Maßnahmen des Pariser Klimavertrags umgesetzt würden – bis 2050 auf eine Erderwärmung von 2,4 bis 2,7 Grad Celsius zu. Was bedeutet das konkret, und welche Hebel können wir ansetzen, um die Entwicklung aufzuhalten?

Klaus WiegandtEine Erderwärmung um drei Grad Celsius bedeutet, dass die Temperatur an Land um bis zu sechs Grad steigt, denn die Ozeane senken den globalen Durchschnitt erheblich. Die resultierende Radikalisierung des Wetter­geschehens führt zu massiven Ernte­einbußen. Für unsere Kinder und Enkelkinder wird der Kampf um Brot und Wasser zum Alltag gehören, Millionen Menschen werden Jahr für Jahr verhungern, verdursten oder durch Kriege um kostbare Ressourcen ihr Leben verlieren. Die wiederkehrende Zerstörung großer Teile der Infrastruktur und von Wohn- und Geschäftsgebäuden durch Extremwetterereignisse sowie die anhaltende Beeinträchtigung von Produktionsprozessen durch Unterbrechungen von Lieferketten werden zudem Schäden in der Größenordnung von mehr als zehn Prozent des Welt­sozialprodukts hervorrufen. Die Politik darf nicht mehr lavieren und muss endlich klima­relevant handeln.

arte Magazin Das klingt, als hätte sie es bisher nicht getan.

Klaus WiegandtBislang hat die Politik nicht den Mut gehabt, die Messlatte beim Klimaschutz auf jene Höhe zu legen, die das Erreichen der Klimaziele garantiert. Diese halbherzige Laissez-faire-Haltung der Regierungen hatte zur Folge, dass die weltweiten CO₂-Emissionen von 22 Milliarden Tonnen im Jahr 1990 auf heute rund 40 Milliarden Tonnen zunahmen. 

arte Magazin Warum können die Regierenden die unverantwortliche Klimapolitik so lang ungestraft betreiben?

Klaus WiegandtDafür gibt es aus meiner Sicht nur eine plausible Erklärung: Die große Mehrheit der Wahlberechtigten in den meisten Ländern ist sich der bedrohlichen Folgen eines ungebremsten Klimawandels noch immer nicht oder völlig unzureichend bewusst. Daher konnten Politikerinnen und Politiker ihren Kurs fortsetzen, ohne zu fürchten, ihr Amt zu verlieren. Deshalb hat aufseiten der Wissenschaft inzwischen ein Umdenken eingesetzt: Anstatt unzählige Resolutionen zu schreiben, die ungelesen in den Schubladen der politisch Verantwortlichen verschwinden, mobilisieren Forschende nun vermehrt die Bevölkerung, etwa in der Bewegung Scientists for Future, die sich im Fahrwasser von ­Greta ­Thunbergs Fridays for Future (FFF) formiert hatte.

arte Magazin Die Blütezeit der friedlichen Freitagsdemos scheint vorüber. Die Proteste werden weniger, dafür aber radikaler. Was halten Sie von Aktivistengruppen wie der Letzten Generation oder Extinction Rebellion?

Klaus WiegandtDie Freitagsdemos wurden von der Politik elegant neutralisiert. Hier ein Fototermin mit ­Greta, dort ein Lippenbekenntnis – das war’s. Es drohte ja keine wirkliche Gefahr, denn FFF hat vor allem Schülerinnen und Schüler angesprochen, also junge Menschen, die noch nicht wahlberechtigt sind. Im Bundestagswahlkampf 2021 spielte die Klimakrise dann auch so gut wie keine Rolle. Die Spitzenkandidaten von CDU und SPD haben einen großen Bogen darum gemacht. Und die eigentliche Klimapartei, die Grünen, bekam nicht mehr als 15 Prozent der Stimmen. Mit anderen Worten: Für 85 Prozent der Wählerinnen und Wähler war das Thema nicht bedeutsam. Mit den Methoden der Letzten Generation bin ich nur bedingt einverstanden, aber ihre Ziele sind richtig.

 

Der Sólheimajökull-Gletscher an Islands Südküste hat im vorigen Jahrzehnt 400 Meter Länge verloren. Infolge des ­Klimawandels schmelzen in Island pro Jahr elf Milliarden Tonnen Gletschereis. Foto: Tamara Bitter/Unsplash

Heißzeit

Wissenschaftsdoku

Samstag, 8.10. — ab 21.45 Uhr

bis 6.11. in der Mediathek

arte Magazin Welche Ziele sind das?

Klaus WiegandtGruppen wie die Letzte Generation wenden sich mit ihrem Protest zwar an die Politik, wollen aber der gesamten Bevölkerung verdeutlichen, dass wir die fossile Verschwendung nicht fortsetzen dürfen. Der Ansatz ist gut, es besteht jedoch die Gefahr, dass sich Aktionen wie etwa Straßenblockaden kontraproduktiv auswirken, weil die Menschen sich darüber ärgern, wenn sie deswegen im Stau stehen. Man muss die Leute anders überzeugen.

arte Magazin Welche Methoden halten Sie für sinnvoller?

Klaus WiegandtWir brauchen dringend einen wissenschaftlich gestützten Diskurs in und mit der Zivilgesellschaft über die Folgen der Erderwärmung sowie die Einbindung der sogenannten naturbasierten Lösungen in den Klimavertrag von Paris. Zugleich muss der Bevölkerung aufgezeigt werden, dass jenes eine Prozent der Bevölkerung den Löwenanteil der Kosten der zukünftigen Klimaschutzmaßnahmen tragen soll, das jahrzehntelang exorbitante Vermögen durch die Nutzung fossiler Energieträger aufbauen konnte, ohne dafür die ökologisch wahren Preise bezahlt zu haben. Das ist der Kern sozial gerechter Klimapolitik.

arte Magazin Was genau ist unter naturbasierten Lösungen zu verstehen?

Klaus WiegandtDazu gehören zum Beispiel das Aufforsten von 350 Milliarden Bäumen in den Tropen und Subtropen, die Renaturierung von Mooren, die Humusanreicherung von Agrarflächen sowie eine Wende im Bausektor durch eine Rückkehr zum Holzbau. Rund 40 Prozent der Treibhausgase werden bei Bau und Nutzung von Gebäuden durch Stahl und Zement emittiert. Oberste Priorität hat allerdings ein Stopp der Abholzung der Regenwälder. Dadurch würden die jährlichen CO₂-Emissionen sofort um fast fünf Milliarden Tonnen reduziert – das ist mehr, als ganz Europa jährlich emittiert. Zugleich wäre das ein wichtiger Beitrag zum Erhalt der Biodiversität. Man wird den Stopp aber nur dann durchsetzen können, wenn die Weltgemeinschaft bereit ist, den betroffenen Ländern den Ertragsausfall zu ersetzen. Brasiliens Präsident ­J­air Bolsonaro etwa wäre mit Geld gut zu überzeugen. Kürzlich sagte er, dass er den Amazonas-Regenwald für zehn Milliarden US-Dollar pro Jahr unter Schutz stellen würde. Schätzungen zufolge wären für den Erhalt der globalen Regenwälder nicht mehr als 40 bis 50 Milliarden US-Dollar pro Jahr nötig.

arte Magazin Peanuts?

Klaus WiegandtPeanuts, wenn man bedenkt, welche Beträge gleichsam über Nacht mobilisiert wurden, um die Weltfinanzkrise oder die Corona-Pandemie zu bewältigen. Wichtig ist indes, dass die erklecklichen Summen, die in den kommenden Jahrzehnten in den Klimaschutz fließen müssen, nicht durch eine weitere Verschuldung der Staaten aufgebracht werden dürfen. Zudem muss die Klimawende sozialverträglich stattfinden.

arte Magazin Woher soll das Geld denn stammen?

Klaus WiegandtDa bieten sich zwei Quellen an, die bislang – wenn überhaupt – nur zaghaft angezapft wurden. Mit einer minimalen Steuer auf Finanztransaktionen von 0,1 Prozent bei Aktien und 0,01 Prozent im Hochfrequenzhandel würde der deutsche Fiskus pro Jahr 40 Milliarden Euro einnehmen. Selbst wenn sich der Handel andere Börsenplätze suchte, blieben noch rund 14 Milliarden Euro in Deutschland hängen. Die zweite Quelle ist die Erbschaftssteuer. Wenn vererbte Vermögen, inklusive Betriebsvermögen, ab einer Höhe von zehn Millionen Euro, beispielsweise mit 30 Prozent besteuert würden, wäre das Aufkommen ein mittlerer zweistelliger Milliardenbetrag. Heute, bei einem jährlichen Erbschaftsübergang von etwa 400 Milliarden Euro, beträgt das absolute Aufkommen nur sechs bis acht Milliarden Euro.

arte Magazin Derlei Pläne dürften einen Aufschrei auslösen.

Klaus WiegandtWenn man das politisch klug kommuniziert und die Freibeträge verdoppelt, wird er ausbleiben. Kern der Sache wäre nämlich ein Staatsfonds, in den all diese Einnahmen fließen und der zweckgebunden wäre. Einlagen und Gewinne dürften ausschließlich dem Klimaschutz und der Infrastruktur zugute kommen. Das müsste gesetzlich verankert werden.

arte Magazin Mit der aktuellen Bundesregierung stehen die Chancen eher schlecht, so ein Vorhaben zu verwirklichen.

Klaus WiegandtAuch Finanzminister Lindner kann rechnen. Wie sollen die Investitionen in den Klimaschutz sozialverträglich aufgebracht werden, wenn nicht auf diesem Weg? Seien wir ehrlich: Wir müssen das ganz große Rad drehen, alles andere wäre politisch unverantwortlich.

Die Freitagsdemos wurden von der Politik elegant neutralisiert.

Wir müssen das ganz große Rad drehen. Alles andere wäre unverantwortlich

Klaus Wiegandt, Stiftung Forum für Verantwortung