Viel war es nie, aber es hat zum Leben gereicht. Nun, in Zeiten der Inflation, wird es für Teile der Bevölkerung wirklich eng: Der Dokumentarfilm „Arm trotz Arbeit – Die Krise der Mittelschicht“ begleitet Menschen, die im Niedriglohnsektor beschäftigt sind und angesichts steigender Energie- und Lebensmittelpreise fürchten, in die Armut abzurutschen. Laut Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge tritt durch die Preisexplosionen ein strukturelles Problem zutage, das lange verdrängt worden ist. Mit dem ARTE Magazin spricht er über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und die Gefahren der Prekarisierung des Arbeitsmarktes.
arte Magazin Herr Butterwegge, seit die Inflationsrate steigt, spricht man in Deutschland wieder mehr von sozialen Schichten. Das war, auch im intellektuellen Diskurs, lange anders: Soziologen wie Ulrich Beck haben in den 1980er Jahren das „Ende von Stand und Klasse“ vorhergesagt. War das naiv?
Butterwegge Das war es. Ulrich Beck hat behauptet, es gebe einen „Fahrstuhl-Effekt“: Dass also alle sozialen Schichten im Zuge des sogenannten Wirtschaftswunders nach oben gefahren seien und während der aufkommenden Massenarbeitslosigkeit in den 1980ern, wie in einem Aufzug, gemeinsam nach unten. Ich habe damals schon darauf hingewiesen, dass es eher einen Paternoster-Effekt gibt: Die einen fahren nach oben, während die anderen nach unten fahren. Arm und Reich sind strukturell miteinander verzahnt. Arbeit und Kapital, als gesellschaftliche Klassen betrachtet, befinden sich nicht im selben Fahrstuhl.
arte Magazin Das war auch während der Corona-Pandemie zu beobachten: Die Einkommensschwachen traf die Krise ungleich härter als die Wohlhabenden. Lässt sich diese Logik auf die Inflation übertragen, die zwar alle Menschen betrifft, aber nicht alle in gleichem Maße gefährdet?
Butterwegge Absolut. Den sozio-ökonomischen Polarisierungseffekt, den wir während der Pandemie erlebt haben, sehen wir auch bei der Inflation. Ein praktisches Beispiel, das sich schon jetzt statistisch nachweisen lässt: Menschen, die derzeit ihre Konten überziehen und hohe Dispozinsen zahlen müssen, füllen damit die Taschen der Bankeigentümer.
arte Magazin Paketzusteller, Verkaufspersonal, Erzieherinnen und Erzieher zählen oft zum armutsgefährdeten unteren Rand der Mittelschicht. Wie lässt sich das erklären?
Butterwegge Das liegt daran, dass sich diese Berufsgruppen zwar bisher oberhalb der Armutsgrenze befanden, die laut EU-Definition bei 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens liegt. Sie kommen aber jetzt, aufgrund der steigenden Lebenshaltungskosten, an ihre Grenzen. Ich nenne das verborgene Armut – und sie drängt in die Mitte der Gesellschaft. Das liegt auch an den prekären Beschäftigungsverhältnissen, die sich seit der Jahrtausendwende immer weiter ausgebreitet haben.
arte Magazin Wie kam es dazu?
Butterwegge Ich mache vornehmlich die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze dafür verantwortlich. Mit der Lockerung des Kündigungsschutzes, der Liberalisierung der Leiharbeit und der Einführung von Mini- und Midijobs hat die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder einen breiten Niedriglohnsektor geschaffen, dem heute bis zu 25 Prozent aller in Deutschland Beschäftigten angehören. Sie bilden das Rückgrat der Gesellschaft, aber sie haben zunehmend Schwierigkeiten, über die Runden zu kommen.
arte Magazin Wie wirkt sich das auf den Zusammenhalt der Gesellschaft aus?
Butterwegge Wenn die Mitte unter Druck gerät, ist das eine Gefahr für die Demokratie: Die Menschen sind empfänglicher für Rechtsextremismus und Rechtspopulismus. Viele reagieren irrational, indem sie das bestehende politische System der Bundesrepublik ablehnen. Sie verlieren das Vertrauen in die etablierten Parteien und driften nach Rechtsaußen.
arte Magazin Die Inflation macht die Defizite auf dem Arbeitsmarkt stärker sichtbar. Birgt das die Chance, dass politisch reguliert wird?
Butterwegge Der Druck, den Arbeitsmarkt zu entprekarisieren, wächst in dem Maße, wie in der Gesellschaft die Erkenntnis reift, dass es so nicht mehr weitergeht. Diese Einsicht kann sich in veränderten politischen Kräfteverhältnissen niederschlagen. Diesen Optimismus des Herzens lasse ich mir – trotz meiner eher düsteren Analysen – nicht nehmen.