Es ist früh, als die ersten Touristen morgens aus ihren Herbergen kriechen. Am Pendino di Santa Barbara, einer Treppengasse, die von der lichten Piazza Giovanni Bovio in Richtung Kloster Santa Chiara ansteigt, bereiten sich zwei US-amerikanische Besucherinnen auf einen Tag voller Entdeckungen vor. Anscheinend haben sie in einem der ehemaligen bassi im historischen Zentrum Neapels übernachtet. Früher waren diese finsteren Erdgeschosswohnungen Synonym für Elend und Hoffnungslosigkeit. Heute werden die dunklen Behausungen oft als lukrative Pensionen genutzt. Manche davon haben zwar nicht mal ein Fenster, sind aber voll klimatisiert, modern ausgestattet und preiswerter als ein übliches Hotelzimmer. Vor ihrer Tür hat man allerdings den Eindruck, dass die Zeit vor 70 Jahren stehen geblieben ist, als die Schriftstellerin Anna Maria Ortese in der Novelle „Neapel liegt nicht am Meer“ die düsteren Gassenschluchten beschrieb, in denen die Sonne nie scheint, egal wie hoch und hell sie am Himmel steht. Im stickigen Halbdunkel ertönt das gutturale Klagelied einer Möwe, und man erkennt, dass beide Touristinnen mitten im aschgrauen Vogelkot barfuß stehen. Eine, blond und zart, lehnt an der hohen, verschimmelten Mauer und singt, unbekümmert von dem ganzen Dreck, ein begeistertes „Happy Birthday“. Ihre Freundin, bekleidet in einem seidenen kurzen Sommerkleid, sitzt auf einer schmutzigen Treppenstufe und telefoniert mit dem Fünf-Sterne-Hotel Vittoria in Sorrent, der mythisch verklärten Kleinstadt am Golf von Neapel. Genau in diesem Edelschuppen, den „Sissi“-Kaiserin Elisabeth ebenso liebte wie Enrico Caruso oder Marilyn Monroe, wollen sie zum Dinner.
AUTHENTISCH UND FÜRSTLICH
Die Szene steht exemplarisch für das brandaktuelle, angesagte Neapel-Erlebnis: Viele Menschen – nicht nur die barfüßigen Touristinnen – möchten die Stadt in all ihren Facetten genießen. Pittoresk im historischen Zentrum oder authentisch im sozialen Brennpunkt Sanità wohnen, aber dann auch bitteschön in bester Dolce-Vita-Manier fürstlich dinieren.
In den vergangenen Jahren verzeichnete die Hafenme-tropole einen Rekord-Ansturm von Besuchern. Immer wieder unterhalten sich die Ortsansässigen über die Gründe für diese akute Beliebtheit. Warum jetzt? Schon seit jeher fesselt Reisende der Zauber von Neapels Kontrasten: die Bucht mit dem Vesuv im Hintergrund und die geschundenen Gässchen, das weiche Licht und das Kaputte, das Chaotische, die Vitalität im Alltag. Man bewundert die unzähligen Kulturdenkmäler, die Kirchenkuppeln, die Ausgrabungsstätten in Pompeji und Herculaneum. Die Urlauberherzen sind von den leuchtenden Zitronengärten, den Panoramaausblicken auf Capri, Ischia und Procida entzückt. Letztere ist die kleinste Insel im Archipel, sie war 2022 Italiens Kulturhauptstadt. Mit Veranstaltungen unter dem Motto „Die Kultur ist keine Insel“ ist auch Procida zur Attraktion avanciert. Währenddessen haben große Filmproduktionen Neapel als Drehort international bekannt gemacht. Paolo Sorrentinos autobiografisches Drama „Die Hand Gottes“ war im Jahr 2022 für einen Oscar nominiert. Ein Zufall – der Besuch eines Fußballspiels mit Diego Maradona, la mano di Dio, der Hand Gottes – rettete in den 1980ern dem damals 15-jährigen Regisseur das Leben. Maradona wird dank seiner erfolgreichen Jahre beim Fußballclub SSC Neapel wie ein Volksheld verehrt, sein Konterfei ziert viele Hauswände der Stadt. Überhaupt wirkt Neapels Schicksal mit dem seiner Fußballmannschaft untrennbar verflochten: Im Mai 2023 gewann der Klub den italienischen Meistertitel. Es folgten Tage, Wochen der ausgiebigen Feiern, die Heerscharen Urlaubshungriger von überall her anlockten.
Wenn ich sterbe, will ich als Neapolitaner wiedergeboren werden.
DIE NEUE RENAISSANCE
Dass der Wind sich langsam drehte und Neapel kurz vor einer neuen Renaissance stand, war bereits in den Jahren 2014 und 2015 zu spüren, als Elena Ferrantes Familiensaga „Meine geniale Freundin“ zum Bestseller avancierte. Sogar Michelle Obama verriet in einem Fernsehinterview, die Romane der Tetralogie mit großer Leidenschaft zu lesen. Davor hatte die Fernsehserie „Gomorrha“, basierend auf dem gleichnamigen Buch des Journalisten und Schriftstellers Roberto Saviano, viele Krimifans angezogen. Ein erstes Anzeichen dessen, was Neapel bevorstand, war die Nachricht, dass ein Reiseveranstalter Ausflüge auf den Spuren der organisierten Kriminalität anbot. Und Medien rund um den Globus berichteten über il metrò dell’arte – die U-Bahn der Kunst. Wegen ihrer Lichtspiele in Türkis- und Dunkelblau, gestaltet unter anderem vom US-amerikanischen Künstler Robert Wilson, wurde die Station Toledo 2014 zur „schönsten U-Bahn Europas“ gekürt. Die Politik unternahm große Anstrengungen, um Neapels Image zu verbessern. Nicht nur wurden die innerstädtischen Viertel vom Müll befreit und Kulturprojekte initiiert, die die Lebensbedingungen der Bewohner verbesserten. Man fing auch an, sich um das Wohlbefinden der Touristen zu kümmern: An ikonischen Orten wie Piazza del Gesù, Via Toledo oder am Hafen wurden die Polizeikontrollen verstärkt. Prompt sank die Zahl der Diebstähle.
Die Camorra will den Touristen keine Probleme machen.
Der Tourismus kann als komplexer Seismograf der Gesellschaft fungieren, als Spiegel von Bedürfnissen, Ängsten und Sehnsüchten. Terroranschläge, wie sie Mitte der 2010er Jahre an beliebten nordafrikanischen Urlaubszielen geschahen, haben das Reiseverhalten der Europäer unmittelbar beeinflusst. Nach 2018 verzichtete über ein Drittel der Deutschen auf Reisen in Länder, die als instabil eingestuft wurden. So wurden Urlauberströme nach Italien, Griechenland und Spanien umgeleitet. Diese Entwicklung wurde 2020 zwar durch die Pandemie gestoppt, aber mittlerweile geht der Trend weiter. In den vergangenen zwei Jahren ist die Zahl der Flüge ins Sehnsuchtsland Italien enorm gestiegen. Von 107 Maschinen, die heute täglich am Flughafen Neapel-Capodichino landen, stammen 97 von ausländischen Flughäfen. Erfreut sich ein Teil der Neapolitaner am wirtschaftlichen und kulturellen Aufblühen ihrer Stadt, so hat dieser Aufschwung das Leben der Bewohner des historischen Stadtkerns komplett auf den Kopf gestellt. Der Massentourismus spaltet die Gesellschaft in Gewinner und Verlierer. Neapel galt jahrelang als eine Me-tropole, die dem Neoliberalismus als vormoderne Enklave trotzte. Jetzt machen sich die verheerenden Folgen der Gentrifizierung auch hier bemerkbar. Nach und nach mussten kleine Geschäfte – die Änderungsschneiderei oder der Friseurladen von nebenan – billigen Street-Food-Restaurants und Souvenirverkäufern weichen. Schaut man auf den Stadtplan bei Google, ploppen im Nu unzählige Stecknadelköpfe auf, die auf Ferienzimmer hinweisen. Aktuell wird in jedem Haus in zentraler Lage über ein Drittel der Wohnungen als Pension angeboten. Unter den zahlreichen registrierten Unterkünften verstecken sich auch ein paar schwarze Schafe: illegale Etablissements, die nicht nur den italienischen Staat um seine Steuern betrügen. Einige davon sind von der Camorra, der neapolitanischen Mafia, betriebene Geldwaschanlagen.
Wie schon in Florenz und Venedig verlangen auch in Neapel Bürgerinitiativen mittlerweile vehement, dass die Politik dem Massentourismus einen Riegel vorschiebt. Gerade erst hat Neapels Stadtrat unter Leitung von Oberbürgermeister Gaetano Manfredi beschlossen, die Zahl von Bars und Restaurants im historischen Zentrum zu deckeln. In den nächsten drei Jahren dürfen keine weiteren Lizenzen für die Gastronomie erteilt werden. Für Maßnahmen, die die Zahl der viel zu vielen Pensionen regulieren sollten, muss man noch auf Beschlüsse der nationalen Regierung warten, weil sie die Hoheit auf diesem Gebiet hat. Bis dahin ziehen die barfüßigen Touristinnen weiter, während die nächsten schon an der Tür stehen.