Nieder mit der Anmut

Pulsierende Körper und treibende Bässe: Mit ihrem „Techno-Ballett“ erobert Sharon Eyal die Bühnen der Welt. Dabei bricht sie mit Normen und setzt auf die Ursprünglichkeit des Tanzes.

In dem Stück „Half Life“ (2018) verschmelzen die Tänzerinnen und Tänzer von ­Eyals Ballettensemble L-E-V zu einem organischen Ganzen. Foto: picture alliance/Eventpress Hoensch

Wenn sie eine Choreografie entwickelt, übernimmt erst mal allein ihr Körper: ­Sharon ­Eyal denkt nicht nach, sie sagt nichts, sondern tanzt einfach drauflos. „Ich glaube an die Geschichte, die aus dem Inneren des Körpers kommt“, sagt die Choreografin im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Man müsse sie nur erspüren und dann tanzend freilegen. Während dieses Prozesses sitzen die Mitglieder ihres Ballettensembles auf dem Boden des Proberaums und filmen jede ihrer Bewegungen mit ihren Smart­phones. Später sieht Eyal sich die Videos an, unterteilt sie in kurze Sequenzen und fügt die Einzelteile zu einem Gesamtwerk zusammen.

Die Freiheit, Dinge zu zerlegen und neu zusammenzusetzen ist charakteristisch für die Choreografin, die 1971 in Jerusalem geboren wurde. In der zeitgenössischen Tanzszene wird ­Eyal gefeiert. Der US-amerikanische Tänzer und Choreograf ­William ­Forsythe nennt sie „kompromisslose Erneuerin des Balletts“. Das Berliner Staatsballett lobt ihre Kreationen als „vibrierende Experimente an der Grenze zwischen Präzision und vermeintlichem Exzess“.

Nicht nur der Einsatz von minimalistischer elektronischer Musik ist ein Novum für viele Opern- und Theaterbühnen wie die Pariser Opéra Garnier, für die ­Eyal jüngst den Repertoireklassiker „L’Après-midi d’un faune“ neu interpretiert hat. Vor allem die rohe, bisweilen archaisch wirkende Körperlichkeit ihrer Tänzerinnen und Tänzer stellt einen Bruch zur Romantik und Anmut des klassischen Balletts dar.

Ihre Stücke lösen bei Zuschauenden einen hypnotischen, tranceartigen Zustand aus – eine Art „Trip-Erfahrung“, wie Gai ­Behar, der Mitbegründer ihres Ensembles, es nennt. „Ich suche das Absolute“, sagt ­Eyal. Sie erinnert daran, dass das Tanzen ursprünglich nicht zur Unterhaltung eines Publikums diente, sondern in allen Kulturen als bewusstseinserweiterndes Ritual mit physischen und psychischen Extremen genutzt wurde. An diese kultische Funktion knüpft ­Eyal an.
„Wie verrückt zu tanzen“ bedeute jedoch nicht, dass die Bewegungen ausufernd sein müssen, erklärt die Künstlerin. Sie glaube nicht an Improvisation, sondern an Organisation. Für den Aufbau ihrer Stücke hält ­Eyal an der kontrapunktischen Struktur des klassischen Balletts fest. Freiheit, so ihre Begründung, sei nur innerhalb einer Struktur möglich, darum gehe es auch beim Tanzen immer um Grenzen. Das Festhalten an Grenzen scheint zunächst nicht zu der feinfühligen Künstlerin zu passen – fügt sich aber genau damit in die Vielschichtigkeit ein, die ihre Werke charakterisiert.

„Es ging mir nie darum, die Dinge bewusst anders machen zu wollen“, sagt ­Eyal. Ihre Arbeit ist ein Kontinuum, kein Korrektiv der Balletttradition. Als junges Mädchen habe sie sich große Mühe gegeben, in das Bild der klassischen Primaballerina zu passen. Sie sah sich von morgens bis abends Ballettvideos an und trainierte, bis die Sohlen ihrer Spitzenschuhe brachen.

Dennoch: „Ich fühlte mich immer ein bisschen anders.“ Der Wendepunkt kam, als Eyal mit 19 Jahren in die renommierte ­Batsheva Dance Company in Tel Aviv aufgenommen wurde. Deren Leiter ­Ohad ­Narain führte die Tänzerin in die Welt des Gaga ein – eine Bewegungssprache, bei der die Schritte aus dem Körperinneren kommen. Statt auf epische Posituren und präzise gesprungene Arabesques setzt Gaga auf die große Wirkung kleiner Gesten. „Das gab mir die Freiheit, die Dinge auf meine Art zu machen“, erinnert sich ­Eyal.

Sie begann, eigene Choreografien zu entwickeln, und gründete 2013 schließlich ihr eigenes Ensemble.
Dessen Name „L-E-V“, hebräisch für „Herz“, verweist auf das Kernthema ihrer Stücke: die Liebe – und das Ringen mit ihren Abgründen. So ergründet ihr Stück „OCD Love“ die Zusammenhänge von Liebe und Zwangsstörungen und legt die inneren Konflikte offen, die das Verlangen nach Vereinigung hemmen. „Mit ­Sharon zu arbeiten gleicht einer Psychotherapie“, verriet der Balletttänzer ­Daniel Norgren-­Jensen im Interview mit dem Sleek Magazine.

„Man kommt nicht umhin, alles in sich zu spüren.“
Immer wieder wird ­Eyals Arbeit vor dem Hintergrund ihrer israelischen Herkunft gedeutet. Das liegt insofern nahe, als sich Motive wie Freiheit versus Grenzen ohne Weiteres auf den Konflikt im Nahen Osten übertragen lassen. ­Eyal lässt sich auf eine Politisierung ihres Werkes nicht ein. Sie will keinen äußeren Konflikt ergründen, sondern ein inneres Gefühl, das uns Menschen mit etwas Größerem verbindet. „Es ist schwer, das in Worte zu fassen“, so ­Eyal. Genau deshalb tanze sie lieber.

Ballett-Abend aus Paris: Nijinski, Eyal, Ashton

Ballett

Freitag, 24.12. — 23.40 Uhr