Pünktlich Feierabend

Wider den Burn-out: Vor allem jüngere Menschen wollen sich nicht für den Job aufreiben und leisten nur noch Dienst nach Vorschrift. Das sogenannte Quiet Quitting verändert den Arbeitsmarkt spürbar. 

Illustration: Andrea Ucini

Eines Morgens dachte Vanessa: Es wäre besser, auf dem Weg zur Arbeit von einem Auto angefahren zu werden, als ins Büro gehen zu müssen. „In dem Moment wurde mir klar, dass ich unter Burn-out litt“, sagt die IT-Expertin, eine der Protagonistinnen in John Websters Dokumentarfilm „Arbeit ohne Sinn“, den ARTE im Dezember zeigt. Als Reaktion holte sie sich professionelle Hilfe, nahm eine Auszeit, fand einen Job, der sie erfüllt – und einen Chef, der ihr ein Leben neben der Arbeit zugesteht.

Das ist nicht selbstverständlich. Monotone Tätigkeiten, enorme Belastung, ständige Erreichbarkeit – die Anzahl der Beschäftigten, die an Burn-out erkranken, hat in den vergangenen Jahren massiv zugenommen. Da hilft es wenig, wenn Personalmanager versuchen, mit Team-­Events, Designer­möbeln, Kickertischen und Obstkörben zu locken. Vor allem Jüngere lassen sich von derlei Bonbons ohnehin nicht beeindrucken. Immer mehr von ihnen sorgen lieber vor, damit der Job nicht ihre Gesundheit ruiniert, und leisten nurmehr Dienst nach Vorschrift: keine Überstunden, keine Wochenend­arbeit, keine dienstlichen Telefonate nach Feier­abend. Quiet Quitting nennen Karriere­fachleute das Phänomen, das gerade aus den USA nach Europa herüberschwappt.

Vor dem Hintergrund des andauernden Fachkräftemangels werden derlei stille Kündigungen für Unternehmen zunehmend zum Problem: Laut einer Studie des Marktforschungsunternehmens ­Gallup wollen knapp zwei Drittel der Beschäftigten in US-Firmen nur noch mit minimalem Aufwand Geld für ihren Lebensunterhalt verdienen. Das Wohl der Firma ist für sie nebensächlich. Rund ein Viertel hassen ihren Job sogar. Quiet Quitting sei derzeit in vielen Industrienationen zu beobachten, warnen die Gallup-Forscher. Auch in Deutschland: Der Studie zufolge seien hierzulande lediglich zehn Prozent der Beschäftigten mit ihrem Job zufrieden; 20 Prozent würden am liebsten sofort den Arbeitgeber wechseln, 70 Prozent tun nicht mehr als nötig – Überstunden kommen für sie nicht infrage.

„Viele Menschen, vor allem in Europa und Nordamerika, verbringen ihr Arbeitsleben damit, Tätigkeiten auszuüben, von denen sie im Stillen denken, dass sie gar nicht getan werden müssten“, hatte der 2020 verstorbene US-Anthropologe ­David ­Graeber in einem Essay konstatiert. Logische Konsequenz: Was nicht getan werden muss, kann man getrost bleiben lassen. Dabei ist die fehlende Sinnhaftigkeit von Tätigkeiten nicht der einzige Grund, weshalb immer mehr Beschäftigte zur stillen Kündigung tendieren. Hinzu kommt die ausufernde Ungerechtigkeit bei der Bezahlung: Von 1978 bis 2021 stiegen die Gehälter von Topmanagern und Vorständen weltweit um 1.460 Prozent, die Löhne von Angestellten dagegen nur um 18 Prozent, wie das ­Economic ­Policy ­Institute (EPI) voriges Jahr ermittelte. Im Schnitt verdienen Konzernchefs heute das 400-fache ihrer Angestellten.

 

Foto: Yellow Film&TV/ZDF

Arbeit ohne Sinn

Dokumentarfilm

Dienstag, 13.12. — 21.10 Uhr

bis 12.12.23 in der Mediathek

DECKELUNG VON MANAGER- UND VORSTANDSGEHÄLTERN

„Um dieses Missverhältnis zu ändern, muss die Politik handeln“, sagt EPI-Forschungsdirektor Josh Bivens. Er fordert „die sofortige, gesetzlich verankerte Deckelung der Vergütungen von Topmanagern und Vorständen auf eine Höhe von 50 Prozent ihres bisherigen Verdienstes“. Bei den Gewerkschaften findet Bivens’ Idee viele Befürworter, in den Führungsetagen der Konzerne stößt sie freilich auf Ablehnung. Der Unzufriedenheit der Beschäftigten begegnen einige Firmenlenker offenbar lieber auf andere Weise: mit dem sogenannten Quiet Firing. Chefs behandeln die Mitarbeiter so schlecht, dass sie von selbst kündigen. Oft können sie dadurch sogar die Zahlung einer Abfindung vermeiden.

„Quiet Firing setzt sich als Reaktion auf Quiet Quitting zurzeit in vielen US-Unternehmen durch“, sagt Gorick Ng, Karriereberater an der Harvard University. „Junge Berufseinsteiger, denen die Work-Life-Balance oft wichtiger ist als älteren Kollegen, müssen daher gut abwägen, ob sie nur das vertraglich vereinbarte Pensum leisten oder sich für den Arbeitgeber stärker engagieren.“ Denn immer mehr Chefs, so der Harvard-Mann, „interpretieren Dienst nach Vorschrift als Arbeitsverweigerung, auch wenn das juristisch umstritten ist“.

Viele Chefs interpretieren Dienst nach Vorschrift als Arbeitsverweigerung

Gorick Ng, Harvard-Karriereberater