Revolution ist ein Prozess

Rund zehn Jahre nach den Revolten in der arabischen Region herrscht Ernüchterung. Die Kommunikationswissenschaftlerin Hanan Badr spricht im Interview über die Macht der Medien, die Dynamik des Aufbruchs und das Potenzial für Wandel.

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Umbruch: Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo gegen Langzeitherrscher ­Husni ­Mubarak am 10. Februar 2011. Einen Tag später trat er zurück. Foto: Pedro Ugarte AFP, Getty Images

Als das Ordnungsamt am 17. Dezember 2010 in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid den Verkaufswagen des Gemüsehändlers ­Mohamed ­Bouazizi beschlagnahmt, ahnt niemand, welche Sprengkraft der Vorfall haben wird. Nur Stunden später setzt sich der 26-jährige ­Bouazizi aus Protest und Ohnmacht ob der Behördenschikane vor dem Haus des örtlichen Gouverneurs in Brand. Wenige Wochen darauf erliegt er seinen Verletzungen. Sein Schicksal gilt als Auslöser der pan­arabischen Massenproteste, die heute unter dem Namen Arabischer Frühling bekannt sind. Nicht nur in Tunesien, sondern auch in Ägypten, Libyen, Syrien sowie Marokko, Jemen und Jordanien forderten Menschen Gerechtigkeit und ein Leben in Würde.

arte magazin Frau Badr, vor knapp zehn Jahren brachen die Aufstände des sogenannten Arabischen Frühlings aus. Eine Bezeichnung, die einige kritisieren. Warum?
Hanan Badr  Im Selbstverständnis arabischer Länder existiert er nicht. Dort gibt es eigene Begriffe. In Tunesien spricht man von der Jasminrevolution, in Ägypten von der Tahrir-Revolution. Der Ausdruck Arabischer Frühling wurde von westlichen Medien geprägt und knüpft an ein bekanntes Narrativ wie den Prager oder Pekinger Frühling an. Dadurch adressiert er ein europäisches und angloamerikanisches Publikum.

arte magazin Am Anfang der historischen Protestwelle stand die Verzweiflungstat des Tunesiers Mohamed Bouazizi. Ähnliche Vorfälle gab es aber schon vorher. Wieso entwickelte dieses Ereignis solch eine Dynamik?
Hanan Badr  Es gab in vielen betroffenen Ländern schon Jahre zuvor Aufstände, aus unterschiedlichen politischen und sozioökonomischen Gründen. Auch Selbstverbrennungen waren in Tunesien keine unbekannte Protestmethode, bekamen aber keine mediale Aufmerksamkeit. Ich denke, der Vorfall hat das Fass zum Überlaufen gebracht.

arte magazin Inwiefern?
Hanan Badr  In Tunesien, Ägypten und Libyen waren mit ­Zine el-Abedine Ben Ali, Husni Mubarak und ­Muammar ­al-Gaddafi seit Jahrzehnten Autokraten an der Macht – seit 20, 30, 40 Jahren. In Syrien regierte Baschar al-Assad zwar noch nicht so lange das Land, führte aber die Dynastie seines Vaters fort. Die Menschen verspürten angesichts der wirtschaftlich und politisch desolaten Situation ­Ausweg- und Perspektiv­losigkeit. Es gab keine nahenden Wahlen, die eine Verbesserung in Aussicht gestellt hätten.

Das Erbe des Arabischen Frühlings: Zwischen Aufbruch und Chaos

Geopolitische Doku

Dienstag, 11.5. — ab 20.15 Uhr 
bis 8.8. in der Mediathek

Arabischer Frühling, Revolution
Am 20. Januar 2011 stoppte die Polizei in Tunis Menschen, die den Rücktritt von Vertrauten des geschassten Autokraten Ben Ali forderten. Foto: Christopher Furlong, Getty Images

arte magazin Als Beschleuniger der Aufstände gelten Medien, primär soziale Netzwerke und der katarische Sender Al Jazeera. Wie groß war ihr Einfluss wirklich?
Hanan Badr  Bewegte Bilder und Unmittelbarkeit waren in der Tat extrem wichtig. Das Video von Bouazizis Selbstverbrennung ging noch am selben Tag viral und wurde von Al Jazeera mit großer Reichweite ausgestrahlt. Dennoch bin ich gegen eine technodeterministische Sichtweise. Medien waren ein Faktor von vielen. Heute werden soziale Medien stärker genutzt und trotzdem gibt es weniger Proteste. Ein Automatismus besteht somit nicht.

arte magazin Welche weiteren Faktoren haben Ihres Erachtens die Aufbruchstimmung befeuert?
Hanan Badr  Zum einen der regionale Dominoeffekt. Zum anderen hat die brutale Antwort vieler Regimes die Fronten verhärtet. Auch spielte die demografische Lage eine Rolle. Der Großteil der Bevölkerung in der Region ist unter 25 Jahre. Die Jungen hatten ihr Leben lang nur ein Staatsoberhaupt erlebt und fühlten sich nicht gehört. Besonders ansteckend war schließlich der Erfolgsmoment, als Ben Ali am 14. Januar ins Flugzeug stieg und nach Saudi-­Arabien floh. Dieses Bild symbolisierte: Es gibt Hoffnung.

arte magazin Dennoch ist die Bilanz negativ. Trotz freier Wahlen in Tunesien ist die Lage in der Region heute schlimmer. Es gibt Arbeitslosigkeit, Bürgerkriege, Dschihadismus. Ist die Revolution gescheitert?
Hanan Badr  Blickt man faktisch auf das Endergebnis, könnte man das meinen. Ich denke jedoch, dass die Revolution als Prozess begriffen werden muss. Wir haben zwar gesehen, dass der beste Wille nicht genügt, um gute Ziele zu erreichen, doch gleichzeitig, dass Menschen gemeinsam viel bewirken können, auch über eigene Differenzen hinweg. Potenzial für einen Wandel von unten ist da.

arte magazin Ein Prozess, der Jahrzehnte dauern kann.
Hanan Badr  Das stimmt. Schneller wäre wohl eine Reform von oben. Nur dafür müssten die Machthaber Einsicht zeigen und verstehen, dass die aktuelle Lage nicht nachhaltig ist. Da sie unfair gegenüber der Mehrheit ist, bringt sie auf Dauer keine Stabilität mit sich.

arte magazin Kann die Weltgemeinschaft durch Druck auf autokratische Regimes etwas ausrichten?
Hanan Badr  Der Ruf nach Wandel muss von den Menschen vor Ort kommen. Aber die Weltgemeinschaft kann Signale setzen, Kooperationen einfrieren oder stärken. Und sie kann viel tun, indem sie aufhört, etwas zu tun – nämlich Waffen in Konfliktregionen zu verkaufen.