Es wirkt, als sei der Mensch auf dem Rückzug aus der Lausitz. Die Zahlen der Demografen belegen das –und es gibt augenfällige Zeugnisse. Etwa imposante Backsteinruinen in Ortschaften wie Spremberg oder Knappenrode. Im 20. Jahrhundert dienten die Prachtbauten der Industrialisierung als Schlachthaus oder Kulturzentrum für die vielen Tausend Bergleute, die in den Siedlungen rund um die Fabriken und Tagebaue lebten. Mit dem Kollaps der DDR und der Abkehr vom Braunkohlebergbau verantworten gleich zwei historische Umbrüche den heutigen Verfall solcher Häuserkomplexe. Fährt man vom brandenburgischen Spreewald kommend auf der Bundesstraße 97 Richtung Sachsen, ins Herz der Lausitz, passiert man weitere Indizien des Rückzugs: etwa ein Spalier aus Hunderten Schildern, links und rechts der Fahrbahn, mit der immer gleichen Aufschrift: „Sperrgebiet. Betreten verboten. Lebensgefahr“. Gut 35.000 Hektar der Lausitz sind derartig abgeriegelt. Der Grund: Die monströsen Eingriffe in die Landschaft durch den Braunkohleabbau können zu gefährlichen Spätfolgen führen. Jederzeit kann die Erde in sich zusammensacken.
Neue Lebensräume
Das erscheint alles wenig einladend – und ist doch ein Grund zur Freude. Zumindest für Naturschützer. Denn wo sich der Mensch zurückzieht – egal, ob freiwillig oder unfreiwillig –, entstehen wieder Lebensräume für Pflanzen und Tiere. Wie die ARTE-Dokumentation „Metamorphosen – Die Wildnis kehrt zurück“ zeigt, lässt sich das in der Lausitz nicht nur an den wachsenden Populationen von Feldhasen, Wildschweinen und Bibern beobachten. Auch Rothirsche, Seeadler und Wölfe leben wieder ganz selbstverständlich dort, wo lange Zeit nur Riesenbagger, Lastwagen und behelmte Bergleute das Landschaftsbild prägten.
Inwiefern die Rückkehr der Wildnis von Dauer ist, muss sich noch zeigen. Denn der Mensch wäre nicht der Mensch, wenn er eine kulturgeschichtlich so reiche Region wie die Lausitz ernsthaft sich selbst überlassen würde. Viele Sagen und Mythen stammen zum Beispiel von hier. Nicht zuletzt die Geschichte des Zauberlehrlings Krabat, die Otfried Preußler – inspiriert von Erzählungen der sorbischen Bevölkerung, die hier seit dem Mittelalter lebt – aufgeschrieben hat.
Für die Post-Kohle-Zeit gibt es selbstredend einen Masterplan. Wie im Ruhrgebiet lautet das Zauberwort: Strukturwandel. Bis 2030 entsteht in der Lausitz die größte künstliche Wasserlandschaft Europas, auf einer Fläche von rund 14.000 Hektar. „Vom Braunkohlerevier zum Urlaubsparadies“, versprechen Tourismusbroschüren bereits. So sollen die durch den Bergbau verursachten Umweltschäden kompensiert werden. Zudem wollen Politik und Wirtschaft den in der Region verbliebenen Menschen – 20 Prozent sind seit 1990 abgewandert – neue Perspektiven bieten. Kann das gelingen?
„Zu DDR-Zeiten zählte die Lausitz zu den unangenehmsten Gegenden, die es in Deutschland gab“, sagt Rolf Kuhn. Seit dem Jahr 2000 treibt der Landschaftsarchitekt und ehemalige Direktor des Bauhaus Museums Dessau den ambitionierten Umbau der Region voran. „Aus einer solchen Gegend eine Tourismusdestination zu machen, ist natürlich sehr viel schwerer, als wenn man es – etwa wie im Spreewald – schon mit einem sehr schönen Naturraum zu tun hat“, betont er. Mögen die Pläne Kuhns und seiner Kollegen vor 20 Jahren noch wie die Quadratur des Kreises gewirkt haben – inzwischen ist der Charme des künstlichen Seenlands vielerorts erlebbar. Etliche Brachflächen und vormalige Kohlegruben – im Strukturwandel-Jargon auch Tagebaurestlöcher genannt – sind bereits mit Wasser geflutet. Teils mithilfe von Flüssen wie der Spree oder der Schwarzen Elster, teils mit Grundwasser, das für den Bergbau mit Sperren zurückgehalten worden war. Vor allem im Zentrum der Lausitz, zwischen den beiden Kreisstädten Senftenberg und Hoyerswerda, entstehen mehr und mehr künstliche Seen, die sich für die Schifffahrt, für Wassersport und für Badestrände eignen.
Zu DDR-Zeiten zählte die Lausitz zu den unangenehmsten Gegenden Deutschlands
Weitsicht vom Rostbraunen Stahlkoloss
Für Weitsicht auf die vom Menschen geschaffene Idylle ist auch schon gesorgt: Dafür gilt es, die 162 Stufen des 30 Meter hohen „Rostigen Nagels“ zu erklimmen. Der Aussichtsturm liegt, umschlossen von einem halben Dutzend Seen, am Rande des Senftenberger Ortsteils Kleinkoschen und hält, was der Name verspricht. In instagramtauglichem Design ermöglicht ein rostbrauner Stahlkoloss auf mehreren Ebenen einen Blick über verschachtelte Gewässer und sich ausdehnende Birken- und Kiefernwälder. 54 Kilometer sind es von hier zur Grenze Tschechiens, 123 Kilometer nach Berlin, verraten Eingravierungen an der Turmspitze.
Liest man die Infotafeln am „Rostigen Nagel“ wird deutlich: Der Turm soll nicht nur an die großindustrielle Vergangenheit erinnern. Er soll die Landschaft mit ihr versöhnen. Der Tourismusverband Lausitzer Seenland stellt dazu eine gewagte These auf: „Nach dem Bergbau entstanden mit der Nährstoffarmut und der Reliefvielfalt der Folgelandschaft einmalige Entwicklungschancen für Pflanzen und Tiere, die in der Kulturlandschaft selten geworden sind.“ Muss Bergbau langfristig als aktive Landschaftspflege verstanden werden? Dass derzeit nur 18 Prozent der Flächen, auf denen nach Kohle gegraben wurde, für den Naturschutz reserviert sind, lassen daran zweifeln. Vielleicht schreitet der Rückzug des Menschen aus der Lausitz aber auch weiter voran, als es all die Pläne vorsehen. Hirsche, Wölfe und Seeadler hätten sicher nichts dagegen.