Es ist das Ende einer Ära: Nach 16 Jahren hat Angela Merkel das Bundeskanzleramt verlassen. Zeitweise galt sie als mächtigste Frau der Welt. Was motivierte sie all die Jahre und was ist ihr Vermächtnis? Marion Van Renterghem hat die Kanzlerschaft der gebürtigen Hamburgerin als Journalistin begleitet. Mit dem ARTE Magazin spricht sie über Merkels Ambition und ihr Wirken im Ausland.
ARTE MAGAZIN Frau Van Renterghem, Sie sind der Ex-Bundeskanzlerin einige Male begegnet. Wie war Ihr Eindruck?
VAN RENTERGHEM Ich nahm oft an ihren Reden im Bundestag oder im Europäischen Rat teil. Ein paar Mal hatte ich die Gelegenheit, mit ihr zu sprechen, auch wenn mir ein Interview verwehrt blieb. Als Emmanuel Macron ihr zum Abschied ein Diner in Beaune ausrichtete, konnte ich mich für alles, was ich im Zuge meiner Arbeit über sie lernte, bei ihr bedanken. Einmal, als ich ihr im Kanzleramt begegnete, sagte sie: „Ach, Sie haben die Porträtreihe über mich veröffentlicht. Wissen Sie, dass François Hollande eifersüchtig ist?“ Sie war reizend. Sie ist eine Frau mit großer Integrität, die keine Spielchen spielt.
ARTE MAGAZIN Was hat Sie dazu bewegt, Bücher über Merkel statt über französische Regierungschefs zu schreiben?
VAN RENTERGHEM Ihre Person hat mich von Anfang an fasziniert. Ich wollte wissen: Was ist der Motor für ihre Ambition? Wie lässt sich ihr Appetit auf Macht erklären – ohne Interesse an den Attributen zu zeigen? Luxus, Prunk, Schein und Autorität sind ihr fremd. Dennoch hat sie das höchste Amt mit Ehrgeiz und Ausdauer ergriffen. Und dabei etliche Männer ausgestochen: Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble, Friedrich Merz – die Liste ist lang. Merkel hat sich in einer misogynen Männerwelt durchgesetzt. Um 16 Jahre an der Spitze zu bleiben, braucht man Machthunger – den sie aber nicht ausstrahlt. Ich fragte mich also: Was ist ihre Motivation?
ARTE MAGAZIN Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?
VAN RENTERGHEM Als Protestantin in einer Diktatur aufzuwachsen, lehrte Merkel den Wert der Freiheit und den Kodex der Vorsicht: zu wissen, was man sagt und was nicht. Ihr Vater hatte als Pastor einen prägenden Einfluss auf sie. Seine Werte – Moral, Disziplin, Menschlichkeit – begleiteten sie seit ihrer Kindheit. Vom Großteil ihrer Mitstreiter unterscheidet sie ihre Moral – und ihr Sinn für wissenschaftliche Analysen.
ARTE MAGAZIN Hätte eine Person wie Angela Merkel in Frankreich eine Chance, Präsidentin zu werden?
VAN RENTERGHEM Merkel symbolisiert etwas, was wir nie haben werden. Wir wählen Charismatiker, die schöne Reden halten und Versprechungen machen. In unserem präsidentiellen System konzentrieren wir uns auf die Persönlichkeit eines Staatschefs. Wir erwarten zu viel und hassen ihn, sobald er gewählt ist. Weil wir zwangsläufig enttäuscht sind. Merkel würde den wütenden Franzosen, den Gelbwesten, nicht entsprechen, sie ist nicht charismatisch genug. Sie ist in Frankreich populär, wir träumen von einem ruhigen, verlässlichen Staatsoberhaupt. Aber wir träumen gern aus der Ferne.
ARTE MAGAZIN Kann man sich generell eine Frau an Frankreichs Spitze vorstellen?
VAN RENTERGHEM Es ist nicht unmöglich. Wir haben für die Präsidentschaftswahl im April mit Marine Le Pen und Valérie Pécresse zwei Kandidatinnen mit Chancen auf die zweite Runde.
ARTE MAGAZIN Hat Merkel das Bild verändert, das Franzosen von Deutschland haben?
VAN RENTERGHEM Sie hat Deutschland sympathisch gemacht. Die Epoche von Helmut Kohl war von den Nachwehen des Krieges geprägt. Merkel ist die erste Kanzlerin, die nach dem Krieg zur Welt kam. Sie verkörpert ein neues Bild von Deutschland: Wachstum und Wohlstand. Sie kam nach Gerhard Schröders fundamentalen Reformen, von denen sie im Gegensatz zu ihm sicher profitierte, an die Macht. Und übernahm Deutschland als „kranken Mann Europas“: hohe Arbeitslosigkeit und eine schwächelnde Wirtschaft seit der Wiedervereinigung. Inzwischen wollen viele Europäer in deutschen Städten leben. In Frankreich herrscht eine Mischung aus Bewunderung und Eifersucht; man denkt, in Deutschland sei alles besser.
ARTE MAGAZIN Würden Sie sagen, Merkel war mehr eine Managerin als eine Visionärin?
VAN RENTERGHEM Ja, das liegt an ihrem Charakter; sie handelt vorsichtig, ist nicht wagemutig, keine Reformerin. Manchmal war sie in der Hinsicht keine gute Europäerin, brauchte zu lang – wie in der Finanzkrise in Griechenland. Man kann ihr vorwerfen, ihr fehlte eine Vision. Doch während der 16 Jahre, in denen sie regierte, rissen auch die Krisen nicht ab, was Reformen erschwerte: Finanzkrise, Staatsschuldenkrise, Flüchtlingskrise, Nationalpopulismus, Brexit, Trump, Covid. Das Konjunkturpaket, das sie mit Emmanuel Macron für die Corona-Krise schnürte, ist unvergleichlich – und in seinem Ausmaß bedeutender für Deutschland als eine Reform.
ARTE MAGAZIN Welches politische Ereignis mit Frau Merkel wird Ihnen besonders in Erinnerung bleiben?
VAN RENTERGHEM Ihre Reaktion auf die Flüchtlingskrise 2015. Fast im Alleingang erfüllte sie die humanitäre Pflicht, vor Krieg und Verfolgung geflohene Menschen aufzunehmen, die von allen europäischen Ländern hätte übernommen werden müssen. Deutschland hat bewundernswerte Maßnahmen ergriffen, über eine Million Flüchtlinge zu integrieren, sodass die Einwanderung bei der Bundestagswahl 2021 nicht mal zur Debatte wurde und extreme Parteien keine ausschlaggebenden Zahlen erreichten. Man warf Merkel ihre Entscheidung zu Unrecht vor. Ich finde, sie hat die Ehre Europas gerettet.
ARTE MAGAZIN Hat Angela Merkel den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg aus der Politik gewählt?
VAN RENTERGHEM Ja. Sie wollte schon früher aufhören, sah sich aber gezwungen, die vierte Amtszeit anzutreten – als Ruhepol gegenüber Trump, Brexit & Co. Die Merkel-Jahre sind mit Stabilität verbunden. Sie hat der neuen Koalition den Grundstein gelegt für Reformen, die sie selbst nicht umgesetzt hat.