»Unserer Zeit voraus«

Wie weit darf Antifaschismus gehen? Regisseurin Julia von Heinz spricht mit dem ARTE Magazin über ihr Coming-of-Age-Drama – und ihre eigene Vergangenheit in der linken Szene.

Luisa (Mala Emde), Alfa (­Noah ­Saavedra) und ­Lenor (­Tonio ­Schneider)
Widerstand: Luisa (Mala Emde) befreundet sich mit den radikalen Aktivisten­ ­Alfa (­Noah ­Saavedra) und ­Lenor (­Tonio ­Schneider). Foto: SWR / Seven Elephants / Oliver Wolff

Alarmiert vom Rechtsruck in Deutschland schließt sich ­Luisa (­Mala ­Emde) einer antifaschistischen Gruppe an. Schon bald überschlagen sich die Ereignisse und sie muss sich entscheiden: Ist Gewalt ein geeignetes Mittel, um das Gute durchzusetzen? Das Drama „Und morgen die ganze Welt“ (2020) basiert auf Erfahrungen der Regisseurin ­Julia von Heinz. Im Gespräch mit dem ARTE Magazin zieht sie Rückschlüsse von ihrer antifaschistischen Vergangenheit auf heute.

arte Magazin Frau von Heinz, welche Bedeutung hat der Film „Und morgen die ganze Welt“ für Sie?

Julia von Heinz Der Film verarbeitet eine intensive Phase meines Lebens in den 1990er Jahren und ist semi-autobiografisch. Neonazis waren neu in Westdeutschland, plötzlich gab es Gruppierungen, Demos, bedrohliches Verhalten im Alltag gegenüber Menschen, die nicht in ihr Weltbild passten. In dieser Zeit lebte ich in Bonn und war im Alter von 16 bis 26 selbst in der Antifa aktiv, wie mein Mann, den ich dort kennenlernte. Mit ihm habe ich auch das Drehbuch zum Film geschrieben.

arte Magazin Inwiefern sind Sie heute noch von diesen Erfahrungen geprägt?

Julia von Heinz Vieles, worüber wir diskutierten, ging über Antifaschismus hinaus, auch wenn das der Schwerpunkt unserer politischen Arbeit war. Wir haben uns zum Beispiel mit feministischen Themen beschäftigt. Wir Frauen in der Antifa wollten nicht konkurrieren, sondern zusammenhalten, gleichberechtigt alles mitmachen, eine Rednerinnen-Quote im Plenum einführen. Viele lebten zudem vegetarisch oder vegan – damals war das alles andere als Mainstream. Ich habe heute das Gefühl, wir waren unserer Zeit voraus. Und ich bin auch froh, dort gelernt zu haben, mich für schwierige Projekte zu engagieren. Das ähnelt fast dem Filmemachen. Außerdem stammt mein engster Freundeskreis aus dieser Zeit.

arte Magazin Früher schrieben Sie Flugblätter, heute drehen Sie Filme. Wie unterscheidet sich das? 

Julia von Heinz Ganz massiv. Ich möchte meine Filme keiner politischen Botschaft unterordnen. Das wäre Propaganda, ohne Raum für Gedanken, Fragen und Gefühle. Deshalb erzähle ich die linke Szene auch in aller Zwiespältigkeit. Ich wollte sie nicht als moralisch einwandfreie Szene darstellen. Trotzdem hat der Film eine klare Haltung: Es geht um Freundschaft und Zusammenhalt. ­Batte und ­Luisa, die Hauptfiguren im Film, entzweien sich fast über all den Konflikten, die von innen und außen an ihnen zerren – finden am Ende aber wieder zusammen.

arte Magazin „Gewaltfreier Widerstand gegen Nazis? Das ist absoluter Schwachsinn“, behauptet Ihr Protagonist Alfa. Hat Gewalt in einer Zeit, in der Demokratie unter Druck gerät, mehr Berechtigung? 

Julia von Heinz Diese Frage kam im Jahr 2015 massiv wieder hoch. Wir waren damals in Bonn überzeugt, wenn wir Neonazis ihren Raum lassen, entsteht eine gewaltsame Umgebung. Reden, akzeptieren, demonstrieren würde nicht mehr reichen, um das zu verhindern – sondern den Rechten müsste dieser Raum streitig gemacht werden. Um diese Frage kreist auch der Film – ohne sie zu beantworten.

Und morgen die ganze Welt

Drama

Freitag, 10.6. — 20.15 Uhr

bis 7.9. in der Mediathek

Luisa (Mala Emde) bei einer Demonstration
Luisa (Mala Emde) nimmt aktiv an Aktionen der linken Szene teil. Foto: SWR / Seven Elephants / Oliver Wolff

arte Magazin Ihr Film wirft generell mehr Fragen auf, als er beantwortet. Wieso? 

Julia von Heinz Ich finde es spannender, wenn ein Film im Kopf der Menschen weiterarbeitet. Er hat zum Beispiel rechts stark angeeckt. Die AfD fühlte sich angegriffen, hat im Rundfunkrat Beschwerde eingereicht und sogar bei einer Anfrage im Bundestag die staatliche Förderung des Films infrage gestellt. Das heißt, er hat auch bei AfD-Abgeordneten etwas ausgelöst.

arte Magazin Ein neurechter Kommilitone Ihrer Hauptfigur ­Luisa will das Widerstandsrecht gegen die „Migrantenflut“ anwenden. Wie schätzen Sie die Stimmung gegen Migrierende in Deutschland aktuell ein?

Julia von Heinz Wir sind zum Glück wieder weiter als 2015, als rechte Tendenzen in Deutschland sehr stark wurden. Allerdings muss man das sehr wachsam beobachten. Gerade heute mit dem Blick nach Frankreich oder Osteuropa.

arte Magazin Warum haben Sie sich dazu entschieden, den Fokus nur auf die linke Szene zu legen? 

Julia von Heinz Ich habe mich für eine strenge filmische Ich-­Perspektive entschieden: Die Zuschauer wissen niemals mehr als die Hauptfigur Luisa. Was sie sieht, sehen wir auch. Deshalb sind wir ausschließlich Teil der linken Szene. Diese Perspektive gibt dem Film eine andere Nähe als ein Mosaik vieler unterschiedlicher Charaktere. Die rechte Szene, die konservativen Studenten sehen wir aus Luisas Distanz. Als Antifa-­Aktivistin würde man den Nazis nicht näherkommen, als ich es zeige. Und sie kommt ihnen ja nahe genug.

arte Magazin Wo finden Sie Inspiration?

Julia von Heinz Mir begegnen immer wieder Themen, die mich persönlich betreffen. Rosa von Praunheim, mit dem ich lange zusammengearbeitet habe, hat mich sehr geprägt. Und mir verdeutlicht, dass es stärker ist, Filme persönlich zu erzählen – weil das Geschichten sind, mit denen man sich auskennt. Ich habe jüdische Wurzeln und Fragestellungen rund um die Nachwirkungen des Holocaust bewegen mich. Bis heute fühle ich mich in Subkulturen und Nischen abseits des Mainstreams wohl. Ich finde dort mehr Kreativität und Inspiration als im vermeintlich Normalen.

Porträt von Julia Heinz
Foto: Sebastian Wells / OSTKREUZ

Zur Person
Julia von Heinz, Regisseurin
Die 1976 geborene Drehbuch­autorin schloss sich nach einem Neonazi-Überfall auf ihre Geburtstagsfeier in Bonn in den 1990er Jahren antifaschistischen Initiativen an. Sie drehte u. a. den Film „Ich bin dann mal weg“ (2015) und die Serie „Eldorado KaDeWe“ (2021).