Wann ist ein Kind ein Kind?

Erst seit der Aufklärung gilt die Kindheit als besonders schützenswerte Zeit. Die Grundprinzipien formulierte der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau in einem Bildungsroman.

Kinderzimmer mit zwei Kindern
Freiraum: Erst ab Ende des 19. Jahhunderts war in Deutschland Kinderarbeit verboten. Zu dieser Zeit etablierten sich erstmals auch in nicht wohlhabenden Familien Kinderzimmer – die ab den 1950ern dann immer bunter wurden. Foto: Popperfoto_Getty Images

Väter, die so ängstlich sind, dass sie sich in jede Rutsche mit hinein zwängen. Mütter, die ihren Vierjährigen den x-ten Früherziehungskurs buchen. Kinder, die neben ihrem Bett in einem Meer aus buntem Holz und Plastik baden. Kurz: Die anderen und ihr Nachwuchs, sie sorgen oftmals für Kopfschütteln. „Werd’ du erst mal Vater“, antworten die Betroffenen beim leisesten Wort der Besserwisserei. Elternsein, so hört man, sei das Intuitivste der Welt. Für den Rest gibt es im 21. Jahrhundert Online-­Ratgeber. Was soll da schon schiefgehen?

Tatsächlich wandelt sich das Verständnis von Kindheit über Generationen hinweg stetig – und das nicht erst, seit die Achtundsechziger versuchten, die autoritäre Pädagogik ihrer Eltern und Großeltern radikal abzuschütteln. Wie der erste Teil der ARTE-Dokumentation „Das Uhrwerk des Lebens“ zeigt, hatten es Kinder im Laufe der Jahrtausende ganz unterschiedlich leicht oder schwer. Manche Wissenschaftler vertreten dabei die Auffassung, Liebe und Schutz für Kinder sei überhaupt erst eine Erfindung der Moderne.

Den Grundstein für unsere heutige Idee von Kindheit als besonders schützenswerte Zeit legte der schweizerisch-französische Philosoph und Schriftsteller Jean-­Jacques ­Rousseau (1712–1778). Obwohl er seine eigenen Kinder – aus finanziellen Gründen – in ein Heim steckte, schrieb er mit dem Roman „Émile oder Über die Erziehung“ (1762) ein Meisterwerk der Pädagogik. Das Buch bricht erstmals mit der bis zur Aufklärung vorherrschenden Auffassung, dass Kinder nur unfertige Erwachsene seien, die es möglichst schnell – und streng – zu formen gilt. Was sie laut ­Rousseau stattdessen brauchen: die Freiheit, altersgerecht ihre „ursprünglichen Gefühle, Neigungen und Bedürfnisse“ zu entfalten. „Die Grundidee von ­Rousseau ist bis heute entscheidend“, sagt die Historikerin ­Martina ­Winkler in der ARTE-Dokumentation. So wie in „­Émile“ beschrieben wünsche man sich die Kindheit: unschuldig, glücklich, naturverbunden.

Die deutsche Ärztin ­Johanna ­Haarer (1900–1988) verfasste im Jahr 1939 den krassen Gegenentwurf zu ­Rousseaus sanfter Pädagogik: Ihr Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ gilt als autoritäres Kinderdrill-­Traktat ganz im Sinne des Faschismus – und war weit über die Nazizeit hinaus ein Verkaufsschlager. ­Haarer inszenierte selbst die Babyjahre – von der Geburt bis zum Füttern – als „Schlacht“ zwischen Mutter und Kind, die die Erwachsenen unbedingt gewinnen müssten. Dass Ordnung, Sauberkeit und Pünktlichkeit für ein Kleinkind nicht das Wichtigste sein sollten und Angst, Gewalt und Zwang keine probaten Erziehungsmethoden sind, ist wissenschaftlich längst belegt. Wichtige Arbeiten in der Sozialpädiatrie, die sich mit Kinderheilkunde und Jugendmedizin befasst, veröffentlichte etwa der Schweizer Kinderarzt ­Remo ­Largo (1943–2020). Viele seiner Forschungen stützen Jean-­Jacques ­Rousseaus antiautoritäre Prinzipien. Demnach sollten Erwachsene voll und ganz auf die innere Motivation von Kindern vertrauen, ihre Vielfalt sehen und fördern und sie lediglich dabei begleiten, selbst gesteckte Ziele zu erreichen. „Das Kind sucht sich immer die Erfahrung, die seinem Entwicklungsstand entspricht. Wir müssen uns an das Kind anpassen, nicht das Kind an uns“, betonte ­Largo in einem Interview.

Das Uhrwerk des Lebens: Geschichte der Kindheit – Geschichte des Alterns

2-tlg. Geschichtsdoku

Samstag, 9.7. — 20.15 Uhr

bis 7.8. in der Mediathek

Kind mit Miniatur-Rakete
Foto: GettyImages-1333927604-EDIT_H. Armstrong Roberts_ClassicStock_Getty Images

Einfach Kind sein – ohne Nörgeln und Schreien

Manche Eltern rollen bei solchen theoretischen Sätzen nur genervt mit den Augen – die US-amerikanische Wissenschaftsjournalistin ­Michaeleen ­Doucleff gehörte bis vor Kurzem dazu. Sie gibt offen zu, wie sehr sie der Alltag mit ihrer sehr lebendigen Tochter lange überforderte. Hilfe fand sie, wie sie im Bestseller-Sachbuch „Kindern mehr zutrauen“ (2021) beschreibt, auf Reisen zu indigenen Gemeinschaften in Mexiko, der Arktis und Tansania. Es habe sie überrascht, wie großzügig, nett und hilfsbereit die Kinder indigener Familien gewesen seien. „Da gab es kein Nörgeln, kein Schreien, kein Diskutieren – kein Drama“, erzählt sie in einem Interview mit dem Standard. Inzwischen betrachtet ­Doucleff die Erziehungskultur westlicher Prägung als Irrweg: Es gebe zu viele kindzentrierte Aktivitäten, zu viel Überreizung und zu wenig funktionierende Familienstrukturen. Einer ihrer radikal anmutenden Ratschläge: „Lasst uns alle Spielsachen wegwerfen. Sie sind komplett unnötig.“