Einladung zum Skandal

In den Jazz-Clubs von Paris kannte Boris Vian jeder, doch seine Bücher blieben lange erfolglos. Erst ein brutaler Aufreger unter Pseudonym brachte ihm den Bestseller.

Tausendsassa: An kreativem Output mangelte es Autor Boris Vian, der auch als Trompeter und Songschreiber arbeitete, nicht. Foto: Serge DE SAZO/Gamma-Rapho/Getty Images

Blut wird fließen und noch mehr Whisky. Subtil ist nichts an dem Roman, der 1946 in den französischen Literaturherbst krachte. „Ich werde auf eure Gräber spucken“ – schon der Titel kam einer Kampfansage gleich. Das Buch handelt von einem Rachefeldzug im US-amerikanischen Hinterland, steckt voller Sex and Crime und Gemetzel. Eine Geschichte aus dem dunklen Herzen des Landes sollte es sein, so jedenfalls bewarb es der Verlag. Dabei hatte der Urheber entschieden wenig Erfahrung mit dem Leben in den USA. Er hatte ja noch nicht mal einen Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt.

 

Der Roman „Ich werde auf eure Gräber spucken“ entstand in Rekordzeit. Buchvover: Editions du Scorpion

 

Denn jener ­Vernon ­Sullivan, der das Skandalbuch angeblich verfasst hatte, ist reine Erfindung. Ein Marketing-Trick, inszeniert, um die Mechanismen des Literaturbetriebs vorzuführen – und nebenbei viel Geld zu scheffeln. Hinter der Finte steckte ­Boris Vian, der erst spät zu Schriftstellerruhm kam, als man in den 1960ern sein surrealistisches Buch „Der Schaum der Tage“ (ebenfalls 1946) wiederentdeckte. Mit seinem Verleger hatte Vian gewettet: Innerhalb von zwei Wochen würde er ihm einen Bestseller liefern, gestrickt nach den Regeln des Massengeschmacks.

Dabei besaß Boris Vian selbst gute Voraussetzungen für literarisches Renommee. Schon mit Anfang 20 gehörte er, aufgewachsen im reichen Vorort Ville d’Avray, zur Pariser Avantgarde um Jean-Paul Sartre und ­Simone de ­Beauvoir. Von Haus aus Ingenieur, schrieb er Gedichte, Theaterstücke und eine Pazifistenhymne, spielte in Jazzbands, wirkte in Filmen mit. Er galt als Impresario der Kellerclubs von Saint-­Germain-des-Prés, feierte mit seiner exzentrischen Clique die Nächte in der Bar „Tabou“ durch. Dort gab man sich wild und trinkfest  – aber mit künstlerischem Anspruch. Echte Anerkennung jedoch suchte Vian als Autor. In seinen Roman „Der Schaum der Tage“ legte er sein ganzes Herzblut. Die zutiefst seltsame Liebesgeschichte um Colin und Chloé, der eine gefährliche Seerose in der Lunge wuchert, gilt heute als Klassiker. Damals unterstützte selbst ­Sartre, der im Buch – offenbar zu seinem Vergnügen – als Literaturidol Jean-Sol ­Partre verballhornt wird, das vielschichtige Werk. Trotzdem scheiterte der Roman zunächst. Er verkaufte sich schlecht, und auch beim sicher geglaubten Literaturpreis Prix de la Pléiade ging Vian leer aus.

 

Im Club „Tabou“, dessen Programm er verantwortete, traf sich Ende der 1940er die Avantgarde. Foto: Keystone-France/Gamma-Keystone/Getty Images

 

BRUTAL UND ANTIRASSISTISCH

Stattdessen versuchte er sich in der kalkulierten Kontroverse. Mit Rausch, schnellen Autos und plakativem Sex bot „Ich werde auf eure Gräber spucken“ Entertainment der brachialen Art, wie die ARTE-Dokumentation „Skandalautor Boris Vian: Rage, Sex und Jazz“ zeigt. Dabei kann man Vians Hauptfigur kaum als typischen Helden seiner Zeit bezeichnen: Lee Anderson ist ein hellhäutiger Afroamerikaner, der sich in eine weiße Kleinstadtgesellschaft einschleicht, um dort den Mord an seinem Bruder zu rächen. Gut möglich, dass auch diese Idee in den Pariser Musikclubs entstand. In der Stadt traf sich damals eine afroamerikanische Diaspora; James Baldwin und andere Schriftsteller lebten dort, Musiker wie Miles Davis kamen. Und gerade in der antirassistischen Haltung liegt das Moderne an Vians Geschichte. Die ist nicht rundherum gut gealtert, denn viele Passagen strotzen vor Frauenfeindlichkeit und sexualisierter Gewalt. Doch mit dem Sujet des „Passing“ – dem Phänomen, dass schwarze Menschen mit heller Haut als Weiße wahrgenommen werden – streift sie ein überraschend aktuelles Thema. In dieser Logik besteht Lee Andersons Affront darin, das gut gehütete Geheimnis seines Schwarzseins zu enthüllen. Nicht, dass ihn das davon abhalten würde, auch ein veritables Blutbad anzurichten.

Ob der Leserschaft die Seitenhiebe gegen das politische System auffielen, ist nicht bekannt. Der Roman aber verkaufte sich wie verrückt. Es gab große Berichterstattung, ein Gerichtsverfahren: Plötzlich war Vians Werk überall. An den Erfolg konnte er, der sich als Übersetzer des Buches ausgegeben hatte, unter eigenem Namen zu Lebzeiten nicht anknüpfen. Auch sonst brachte ihm der Bestseller wenig Glück: Boris Vian, der an einem schwachen Herzen litt, starb bei einer Vorführung zur Filmversion von „Ich werde auf eure Gräber spucken“. Gegen die hatte er sich vehement gestemmt. Er fand sie unseriös. 

Skandalautor Boris Vian: Rage, Sex und Jazz

Porträt

Mittwoch, 16.11. — 22.40 Uhr  

bis 14.1.23 in der Mediathek