Briefkolumne

Bei Regen nachts an einer roten Ampel stehen? Über so viel Disziplin können Franzosen nur lachen – und „Dummheiten aus Cambrai“ lutschen.

Illustration: Uli Knörzer

Cher Dirk,

in diesen Tagen keimt wieder der Rebellionsgeist in mir auf – nur zu gerne würde ich wie zu Jugendzeiten Unsinn treiben. Ein Bedürfnis, das wohl auf all die pandemiebedingten Einschränkungen zurückzuführen ist, auch wenn ich weiß, wie nötig sie sind. Dennoch fühle ich mich angesichts von Verboten stets zurückversetzt in meine Internatszeit. So denke ich an die nächtliche Ausgangssperre, die ab 18 Uhr galt. Eine Strenge, die uns jedoch nur antrieb. Nachts warfen wir uns in der Dunkelheit des Schlafsaals gegenseitig nasse Waschlappen zu – und platsch! Darauf folgte Gekicher, das durch die Aufregung einer möglichen Entdeckung verstärkt wurde. Manchmal gab ich vor, schlafzuwandeln, um unsere hübsche junge Ordensschwester dazu zu bringen, mich ohne ihre Tracht wieder ins Bett zu begleiten. Wir hofften, sie mit unbedecktem Haar und im Nachthemd zu sehen, leider erfolglos. Dafür wurde ich oft mit Stubenarrest bestraft, quasi ein individueller Lockdown. Eine, wie es hieß, „wohlverdiente Strafe“ für meine „Disziplinlosigkeit“. Letztere gilt als sehr französische Eigenschaft. Es stimmt jedenfalls, dass wir uns oft in Kinoschlangen vordrängeln, rote Ampeln ignorieren und unter Einsatz unserer Stoßstangen einparken. Und wusstest Du, dass auch die Kreation einer unserer berühmtesten Süßwaren auf Regelmissachtung zurückgeht? Eines schönen Tages um 1830 soll der Konditorlehrling ­Émile aus ­Cambrai beim Rühren der Bonbonmasse im elterlichen Betrieb versehentlich Minze hineinfallen lassen haben. Doch die Kundschaft war angetan, und die Pfefferminzbonbons wurden „­Bêtises de ­Cambrai“, sprich „Dummheiten von ­Cambrai“, getauft. So hat vielleicht auch Blödsinn manchmal seinen Sinn. Wie stehst Du, lieber Dirk, zu Disziplin? Und ist sie, wie man behauptet, tatsächlich eine typisch deutsche Eigenschaft?

Rebellische Grüße,
Colombe

Karambolage Magazin

Magazin
sonntags • 18.55 Uhr
alle Folgen in der Mediathek.

Liebe Colombe,

ich möchte Dir zunächst einen Witz erzählen: Was macht ein deutscher Tourist, wenn er im Urwald auf eine Schlange trifft? Er stellt sich hinten an! Du siehst, immerhin versuchen wir, darüber zu lachen, dass wir so schrecklich diszipliniert sind – aber bitte nicht allzu laut und nach 22 Uhr gar nicht mehr. Es mag Dich ernüchtern, aber auch ich bin so einer, der sich immer an die Regeln hält, der sich nie vordrängelt, nie falsch parkt, nie schwarzfährt und nie beim Mau-Mau schummelt. Und solltest Du durch einen irren Zufall je nachts um drei eine Landstraße in der deutschen Provinz entlangfahren und einen Mann im strömenden Regen an der Fußgängerampel warten sehen, bis sie endlich grün wird, dann hupe drei Mal, liebe ­Colombe: Denn das könnte ich sein, Dein Brieffreund Dirk. In gewisser Weise stehe ich da wegen ­Friedrich ­Wilhelm I. Als er 1713 den Thron bestieg, befand sich das Staatswesen in einem großen politischen, kulturellen und konfessionellen Durcheinander. Also verordnete er seinen Untertanen Fleiß, Pünktlichkeit und Ordnung – die preußischen Tugenden. Der volkstümliche Dichter Ludwig Hölty schrieb später: „Üb’ immer Treu und Redlichkeit / bis an dein kühles Grab, / und weiche keinen Fingerbreit / von Gottes Wegen ab. // Dann wirst du, wie auf grünen Au’n, / durchs Pilgerleben gehn; / dann kannst du, sonder Furcht und Graun, / dem Tod ins Auge sehn.“ Ich bin mir allerdings nicht so sicher, ob unsere heutige Disziplin noch immer so erhabene Ziele verfolgt – oder ob viele von uns schlichtweg keinen Stress mit dem Ordnungsamt wollen. In diesem Fall wäre sie, moralphilosophisch betrachtet, wohl eher minderwertig. Viel Spaß macht sie sowieso nicht. Ihr Franzosen habt vollkommen recht, wenn Ihr sagt: „Être Prussien est un honneur, mais pas plaisir.“ – „Preuße zu sein ist eine Ehre, aber kein Vergnügen.“ Vielleicht bringst Du mir einmal bei, wie man sich vordrängelt? Das wäre für mich eine geradezu bewusstseinserweiternde Erfahrung.

Schon ganz aufgeregt,
dein Dirk