Geniestreich gegen die Grausamkeit

Mohammad Rasoulofs „Doch das Böse gibt es nicht“ ist ein Plädoyer gegen die Todesstrafe – und ein filmgewordener Coup gegen das iranische Regime. 2022 wurde der Regisseur inhaftiert. 

Doch das Böse gibt es nicht Berlinale Rasoulof
Foto: Cosmopol Film/ZDF

Es war von vornherein klar, dass ­Mohammad ­Rasoulof für diesen Film keine Dreherlaubnis bekommen würde. Die iranische Zensurbehörde hatte den Regisseur seit Jahren auf dem Radar: 2010 war er verurteilt worden, weil das Gericht seine Arbeit als „Propaganda gegen den Staat“ eingestuft hatte. Trotz des verhängten Berufsverbots realisierte ­Rasoulof danach weitere Filme in seinem Heimatland: „Auf Wiedersehen“ (2011), „Manuscripts Don’t Burn“ (2013) und „A Man of Integrity“ (2017) erzählen von der Unmöglichkeit eines freien Lebens in dem durch und durch korrupten Gottesstaat. Im Juni 2019 landete ­Rasoulof erneut vor Gericht und wurde wegen „Volksverhetzung“ und „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.

Doch das Böse gibt es nicht

Episodenfilm

Montag, 19.2. — 20.15 Uhr
bis 19.3. in der Mediathek

Bis zur Vollstreckung der Haftstrafe dauerte es allerdings noch ein paar Monate. Die verbleibende Zeit nutzte der Filmemacher für einen Coup gegen das Mullah-­Regime: Er drehte, heimlich und unter falschem Namen, einen Film über die Todesstrafe in der Islamischen Republik – und gewann damit den Goldenen Bären bei der Berlinale 2020. „Doch das Böse gibt es nicht“ offenbart anhand von vier Einzelschicksalen, wie der iranische Hinrichtungsapparat die Bürger des Landes zu Komplizen macht, die ihre Mitmenschen im Dienst des Staats töten. 

„Würdest du jemanden für drei Tage Urlaub aufhängen?“ Vor dieser undenkbaren Frage steht ­Javad (­Mohammad ­Valizadegan), ein junger Rekrut der iranischen Armee, der zum Dienst am Galgen abkommandiert wurde. Drogensüchtige, politische Gefangene, Diebe: Wer die Verurteilten sind, denen er „den Hocker wegziehen“ soll, weiß Javad nicht. Das staatliche Töten ist ihm zuwider, aber er sieht keinen Ausweg: Deserteuren wird in Iran der Pass weggenommen, sie bekommen weder Führerschein noch Krankenversicherung, dürfen ihr Leben lang keinen anderen Beruf ausüben. „Wenn wir uns weigern, zerstören sie unser Leben“, sagt der junge Mann in einer Szene. Außerdem erhält er drei Tage Extra-Urlaub, wenn er die Hinrichtung ausführt. So könnte er seine Freundin wiedersehen, die mit ihren Eltern auf dem Land lebt. Wenn ­Javad den Dienst verweigert, führt ein anderer ihn aus. Welche Verantwortung hat er, als Rädchen im Getriebe eines totalitären Systems, in dem sämtliche politische Grundrechte und Freiheiten ausgehebelt sind?  

 

Berlinale Doch das Böse gibt es nicht
Während seines Urlaubs hält der Rekrut ­Javad (Mohammad Valizadegan) um die Hand seiner Freundin (­Darya ­Moghbeli) an. Foto: Grandfilm

DIE MACHT LIEGT IM NEINSAGEN

Egal, wie sie sich schlussendlich entscheiden: Rasoulof, selbst Regimekritiker und politischer Dissident, bringt viel Empathie für seine vier Protagonisten auf. Er zeigt sie nicht als kaltblütige Mörder, sondern als resignierte, allmählich abstumpfende Durchschnittsmenschen; als Familienväter, die ihre Frauen und Kinder nach getaner Arbeit zum Pizzaessen einladen. Hannah Arendts Theorie von der „Banalität des Bösen“ sei in seine Überlegungen für den Film mit eingeflossen, sagte der Regisseur 2020 in einem Interview. Umso stärker wirken im Kontrast dazu jene Figuren, die moralisch handeln und argumentieren: „Deine Macht liegt im Neinsagen“, rät eine Frau dem Soldaten Javad angesichts seines Dilemmas.

Die Form des Films – vier lose zusammenhängende Geschichten – ergibt sich aus den Produktionsbedingungen in Iran, wo seit der Islamischen Revolution 1979 de facto keine Kunstfreiheit herrscht. Drehbücher werden vom Kulturministerium geprüft, regimekritische Stimmen rigoros zensiert. Doch Rasoulof fand ein Schlupfloch: Statt eines Drehbuchs für einen Langfilm legte er Skripte für vier Kurzfilme vor, als deren Autoren seine Regieassistenten zeichneten. „Bei Kurzfilmen sehen die Behörden nicht so genau hin“, verriet er. Am Set tauchte er verkleidet auf; von öffentlichen Drehorten mit erhöhter Polizeipräsenz, etwa dem Teheraner Flughafen, blieb er fern.  

 

Berlinale Doch das Böse gibt es nicht
Regisseur ­Mohammad Rasoulof wurde wegen Propaganda gegen den Staat verurteilt. Foto: Grandfilm

Als „Doch das Böse gibt es nicht“ im März 2020 bei der Berlinale als Bester Film geehrt wurde, konnte der Iraner nicht teilnehmen: Die Behörden hatten seinen Pass eingezogen und ließen ihn nicht ausreisen. Im März 2022 wurde ­Rasoulof inhaftiert, nachdem er mit anderen Filmschaffenden in einem offenen Brief die steigende Polizeigewalt in Iran angeklagt hatte. Als der mutmaßliche Mord an der Kurdin ­Jina ­Mahsa ­Amini im September 2022 landesweite Demonstrationen auslöste, saß Rasoulof im Teheraner Evin-Gefängnis für politische Gefangene. Im März wurde er aus Gesundheitsgründen entlassen, ausreisen durfte er seither nicht. Während der Widerstand im Land anhält, erhöht das Regime den Druck: Die Zahl der Hinrichtungen stieg seit 2021 um 75 Prozent auf über 582.