Das ist die Sache mit Texten über Charlotte Gainsbourg: Sofort steckt man knietief drin in der Familiengeschichte. Landet ohne Umweg bei Serge Gainsbourg (1928–1991), dem kettenrauchenden Chanson-Genie, und Jane Birkin (1946–2023), der britischen Schauspielerin mit der Zahnlücke, einst vereint als Skandalpaar der 1960er und 1970er Jahre. Kaum ein Interview, in dem Gainsbourg nicht nach ihnen gefragt wird, und keins, in dem sie nicht unerschütterlich erklärt, dass sie im Vergleich mit ihren Eltern praktisch nur verlieren könne, des elterlichen Talents und Stilbewusstseins wegen. Bloß um sich dann in der Praxis, klar, gleich selbst zu widerlegen. Schließlich hat Charlotte Gainsbourg längst eine mindestens ebenso große Karriere.
Eigentlich sogar mehrere: Die als Popsängerin etwa, in der sie Discomusik mit melancholischer Unterströmung macht. Oder als Gesicht der französischen Modemarke Saint Laurent, die Gainsbourg in Tuxedo-Jackets kleidet und ihr Gesicht auf Plakate druckt. Vor allem aber gehört Gainsbourg zu den großen Stars des europäischen Kinos, weil es ihr gelingt, so radikal und ungeschützt zugleich ihr Innerstes nach außen zu krempeln. Auch wenn das Ergebnis nicht immer leicht zu verdauen ist.
Es war kein Weg, der vorgeschrieben schien. „Als Kind war ich sehr spießig, und das habe ich noch immer in mir“, hat sie einmal gesagt. Weil sie so schüchtern gewesen sei, habe sie öffentliche Auftritte gehasst. Vor der Kamera landete sie trotzdem, vermutlich, weil sowieso immer welche in der Nähe waren. Als Zwölfjährige übernahm sie 1984 an der Seite von Catherine Deneuve ihre erste Kinorolle. Man kann sich ein unauffälligeres Debüt vorstellen. Seitdem hat Gainsbourg in mehr als 60 Filmen gespielt, in Alejandro González Iñárritus „21 Gramm“ (2003) etwa oder in Todd Haynes „I’m Not There“ (2007), in Serien wie „In Therapie“ (2022). Bei ihr zu Hause steht eine Goldene Palme aus Cannes. Ganz sicher hat niemand ihre Karriere so sehr geprägt wie Lars von Trier. Während der dänische Regisseur bei Darstellerinnen wie Björk oder Nicole Kidman Fluchtreflexe auslöste, schien bei Gainsbourg ein Schalter einzurasten, wenn sie sich äußerlich fragil, aber wild entschlossen durch das störrische Material arbeitete. In „Antichrist“ (2009) bestrafte sie sich und andere mit rabiatem Körperhorror für den Tod ihres Babys. Sie agierte in „Melancholia“ (2011) im Schatten eines nahenden Planeten, der die Erde zu zermalmen droht, und spielte in „Nymphomaniac“ (2013) eine Sexsüchtige am Rande des Selbstverlusts. Es scheint, als könne wenig sie schrecken, solange es vor der Kamera geschieht. Sie selbst sagt: „Ich suche nach Gegensätzen, nur so finde ich Balance.“
Im Vergleich dazu kommt der Kinofilm „Passagiere der Nacht“ (2022), den ARTE im März zeigt, ohne jegliches Schockpotenzial aus. Die Szenerie ist das Paris der 1980er Jahre, gerade ist François Mitterrand zum Präsidenten gewählt worden. Gainsbourg spielt Elisabeth, die, frisch vom Ehemann verlassen, plötzlich als Alleinerziehende dasteht. Beim Radio fängt sie als Telefonistin einer Late-Night-Show an, auch um ihre Schlaflosigkeit zu bekämpfen. Als eines Nachts die wohnungslose Talulah (Noée Abita) im Sendehaus auftaucht, nimmt Elisabeth sie mit nach Hause. Unnötig zu sagen, dass die Ausreißerin die Familie mit ein paar unbekannten Realitäten konfrontiert.
Die Aufbruchsstimmung der Zeit illustriert Regisseur Mikhaël Hers mit krisseligen Videoaufnahmen und diskreter Retrokulisse. Abende am Plattenspieler, durchgequalmte Pariser Apartments: Für Gainsbourg dürfte der Film auch ein Abstecher in ein prägendes Jahrzehnt gewesen sein. Es war in den 1980er Jahren, als sie im Teenageralter einen César gewann. Mit ihrem Vater brachte sie 1985 ein Lied namens „Lemon Incest“ heraus – ein gezielter Aufreger und in Frankreich ein Charts-Hit. „Nun wurde mir klar, wie altbacken diese Zeit aber auch war“, sagt sie über den Dreh zu „Passagiere der Nacht“. „Die Kostüme brachten mich zum Lachen, denn es gab bekanntlich viel schlechten Geschmack. Doch genau das gefällt mir: die fehlende Berechnung.“
DAS PRIVATE JAHRZEHNT
Im Film läuft das Leben sachte weiter, während Kinder erwachsen werden und Karrieren, Drogenprobleme oder neue Lieben sich nebenbei ereignen. Das Private ist die Folie, die sich vor die Welt schiebt, nicht umgekehrt. Ein bisschen scheint es, als ginge es auch Charlotte Gainsbourg so. Gerade erst hat sie eine Dokumentation über Jane Birkin gedreht und Serge Gainsbourgs lange unberührtes Wohnhaus in Saint-Germain-des-Prés als Museum eröffnet. Das Familiäre ist nun einmal hartnäckig. Es bleibt einem erhalten, egal wie viel Zeit vergeht.
Mir wurde klar, wie altbacken die 1980er Jahre auch waren