Der tragische Held

In Europa als Freiheitsbringer verehrt, in Russland geächtet: 30 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion entzweit das Erbe von Michail Gorbatschow.

Gorbatschow
Für einige Jahre stand der ehemalige Präsident der Sowjetunion im Zentrum der Weltgeschichte: Michail Gorbatschow (M.), hier 1990 bei einer Parade mit dem französischen Außenminister Roland Dumas (l.). Foto: Peter Macdiarmid/Getty Images

Knapp 30 Jahre nach seinem erzwungenen Rücktritt als Präsident der Sowjetunion, die zu ihren besten Zeiten fast die halbe Welt beherrschte, blickt ­Michail ­Gorbatschow auf ein umstrittenes politisches Lebenswerk. Im Alter von 90 Jahren lebt er heute nicht luxuriös, sondern eher bescheiden in einem Haus nahe Moskau, das ihm mit lebenslangem Nutzungsrecht gestellt wird. Der lettisch-russische Regisseur ­Vitaly ­Mansky durfte ­Gorbatschow dort nicht nur exklusiv interviewen, sondern auch seinen altersbedingt beschwerlichen und menschlich einsamen Alltag einfangen. ­Gorbatschow wirkt teilweise verloren und nur deshalb nicht ganz verlassen, weil ihm noch eine Handvoll Hausbedienstete geblieben sind. ­Manskys Dokumentarfilm, den ­ARTE im August zeigt, lässt den Zuschauer spüren, welche Leere ­Gorbatschow an seinem Lebensabend umgibt – eine Leere, die sich leicht als Sinnbild deuten lässt für den Umgang mit dem Politiker im heutigen Russland unter Putin.

Bei unserem bisher letzten Vieraugen-Gespräch 2019 in Moskau fragte ich ­Gorbatschow, ob es ihn nicht betrübe, dass er in seiner Heimat häufig mit Vorwürfen konfrontiert wird, er habe das Sowjetimperium verspielt. Selbstbewusst, ruhig, keinesfalls trotzig, sondern eher etwas melancholisch erwiderte er: „Ach, ich weiß für mich, was ich alles Gutes vollbracht habe.“ Auch wenn Gorbatschow mit sich im Reinen zu sein scheint, ist er für die Mehrheit der Russen eine Unperson. In ihren Augen sei er für wirtschaftliche Instabilität, Nationalitätenkonflikte und den Zerfall des Landes verantwortlich. Dass die Sowjetunion mit ihrem maroden Plansystem schon vor ­Gorbatschows Machtantritt am Abgrund taumelte, dass es schon vorher Nationalitätenkonflikte gab, konnte im Bewusstsein der russischen Gesellschaft nicht verankert werden. Nicht zuletzt, weil die sowjetischen Medien mit ihrer staatlichen Propaganda diese Themen tabuisierten und eine heile innenpolitische Welt zeichneten, in der selbst über Autounfälle nicht berichtet wurde, „um das Volk nicht zu beunruhigen“, wie es hieß.

Der jüngeren Generation, die unter ­Wladimir ­Putin aufwuchs, wird die Gorbatschow-­Ära in den Schulbüchern in einem überwiegend schlechten Licht vermittelt, dafür aber die Stalin-­Zeit geschichtsklitternd zumindest verharmlost, punktuell sogar heroisiert. An diesem Narrativ beteiligt sich auch das mächtige russische Staatsfernsehen. ­Gorbatschow wird in Russland mehrheitlich gemieden, abgelehnt, ja teilweise gehasst. Darin liegt eine besondere Tragik, weil er es war, der es überhaupt ermöglichte, dass die Menschen ihn schon während seiner Amtszeit als Kreml-Chef kritisieren durften und nicht, wie zuvor in der Sowjetunion üblich, dafür in ein Arbeits­lager (Gulag) oder als angeblich „Geisteskranke“ in eine Anstalt gesteckt wurden.

Gorbatschow. Paradies

Dokumentarfilm

Dienstag, 17.8. — 20.15 Uhr
bis 15.9. in der Mediathek

Gorbatschow
Beliebt: Küsschen gab es zwar nur von hartgesottenen Kommunisten-Freunden wie DDR-Chef Erich Honecker; aber auch westliche ­Politikerinnen und Politiker wie Großbritanniens Premierministerin ­Margaret ­Thatcher und US-Präsident Ronald Reagan hofierten Michail Gorbatschow. Foto: Wolfgang Kumm/dpa/picture alliance

Sein zentrales innenpolitisches Anliegen war, die bis dahin unterdrückten Sowjetbürger an den Entscheidungsprozessen teilhaben zu lassen, ihnen das Recht zu geben, offen und angstfrei ihre Meinung zu sagen. Mit der Glasnost-Politik (Transparenz, Offenheit) und dem Modernisierungsprozess Perestroika (Umgestaltung) sollte das sozialistische System revitalisiert, aber keineswegs abgeschafft werden. ­Gorbatschow erkannte, dass für die Gesundung der Gesellschaft auch eine ehrliche Aufarbeitung der Stalin’schen Terrorjahre nötig war. Er sorgte dafür, dass über diese Verbrechen öffentlich gesprochen und berichtet werden durfte, dass Zehntausende rehabilitiert wurden, die unschuldig verurteilt und ermordet worden waren. Alle politischen Gefangenen aus der Ära nach Stalin ließ er frei, der prominenteste darunter: der Atomphysiker und Friedensnobelpreisträger ­Andrej ­Sacharow. ­Gorbatschow unterzog die Gesellschaft sozusagen einer längst fälligen Psychotherapie, mit der er das jahrzehntelang tabuisierte Leid und Unrecht vieler seiner Landsleute lindern wollte.

­Gorbatschow erlebte 1937 als Sechsjähriger, wie ­Stalins Schergen seinen Großvater festnahmen und abführten. Der überlebte die Haft zwar, wurde aber gefoltert. Erstaunlicherweise machte der Großvater nicht ­Stalin für sein Leid verantwortlich, sondern dessen Gegner. Der Glaube an den Kommunismus blieb im Hause ­Gorbatschow unerschüttert – auch beim jungen ­Michail.

Wie konnte aber aus dem stalinistisch geprägten Kommunisten ­Gorbatschow schließlich der Völkerbefreier und Demokratiebringer ­Gorbatschow werden? Oder war er nur ein „Zufallsrevolutionär“, weil ihm seine Reformen entglitten, wie manche behaupten? Er benennt für seine Wandlung zwei Hauptgründe. Zum einen habe es keinen Generalplan für die Perestroika in diesem riesigen und höchst komplexen Land gegeben. Vieles sei auf dem schwierigen Reformweg angepasst worden; er und seine Mitstreiter hätten sich persönlich oft selbst „umgestalten“ müssen. Der zweite Grund klingt banaler, was ihn nicht weniger plausibel macht: „Als junger Mann war ich ein richtiger Stalinist“, so ­Gorbatschow, „dann wurde ich zum Anti-Stalinisten, der den Totalitarismus bekämpft hat. Menschen verändern sich im Laufe ihres Lebens.“

Politiker mit Widersprüchen
Der studierte Jurist Gorbatschow begann 1955 nach dem Moskauer Universitätsabschluss seine berufliche Laufbahn zunächst in der Staatsanwaltschaft in Stawropol, der Gebietshauptstadt seiner nordkaukasischen Heimat. Diese Arbeit verrichtete er aber mit Unbehagen, sodass er – entgegen den damaligen Regeln – um seine dortige Entlassung und Aufnahme in den Parteiapparat bat, die ihm schließlich gewährt wurde. Vom Funktionär der Kommunistischen Parteijugend der Sowjetunion arbeitete er sich hoch bis zum Mitglied des allmächtigen Politbüros in Moskau – bis er schließlich 1985 im Alter von 54 Jahren Kreml-Chef wurde.
An eine Abkehr von der Lenin’schen Lehre dachte er damals nicht, im Gegenteil. Aber seine tatsächlich praktizierte Politik stand bald im Widerspruch zu ihr, weil er beispielsweise einen innerparteilichen Pluralismus zuließ, der nach ­Lenin unzulässig war. ­Gorbatschow war, das zeigt der Film von ­Vitaly ­Mansky deutlich, zweifellos ein Politiker mit Widersprüchen.

Er wollte Demokratie und Meinungsfreiheit in sozialistischen Bahnen, doch die Bürger wollten bald die ganze Freiheit. Sein großes Verdienst ist, dass er sich dem nicht entgegenstellte, als er noch die Macht hatte, dies zu tun. Außenpolitisch war ­Gorbatschow sehr erfolgreich, weil er seine frühzeitige Ankündigung, sich vom Moskauer Herrschaftsanspruch gegenüber den Satelliten-Staaten zu verabschieden, in die Tat umgesetzt hat. Er hat mehr als 164 Millionen Menschen in die Freiheit entlassen: 38 Millionen Polen, fast 16 Millionen Tschechen und Slowaken, 23 Millionen Rumänen, jeweils neun Millionen Bulgaren und Ungarn sowie rund 16 Millionen Deutsche in der DDR. Ihnen allen hat er durch den erklärten Gewaltverzicht die Angst genommen und somit erst den Rahmen geschaffen, dass die Bürger aufstanden. Auch sein Ziel der umfassenden militärischen Abrüstung und Entspannung mit dem Westen hat Gorbatschow erreicht. Er hat im Wesentlichen den Kalten Krieg beendet, nicht der Westen – und er bekam dafür folgerichtig 1990 auch den Friedensnobelpreis.

Warum sind seine eigenen Bürger ihm aber mehrheitlich so undankbar? Durch ihn haben Sie doch Reisefreiheit, Religionsfreiheit bekommen, dürfen die bis 1985 verbotenen in- und ausländischen Bücher lesen, Filme sehen und vieles mehr. Die Rolle der Frau wertete ­Gorbatschow auf, lebte mit seiner Gattin Raissa Partnerschaft auf Augenhöhe und Respekt vor, was für die sowjetische Gesellschaft eher ungewöhnlich war. Hätte er wirtschaftlich mehr Erfolg gehabt, wäre der Ölpreis, der für den Staatshaushalt wesentlich ist, ausgerechnet in seiner Amtszeit nicht in den Keller gerauscht, sähen seine Popularitätswerte in der Heimat sicher anders aus.

Der Grund für ­Gorbatschows Tragik besteht auch darin, dass viele Russen seine Amtszeit mit der des alkoholkranken Boris Jelzin durcheinanderbringen, der ab 1992 im Kreml herrschte und der dem Raubtierkapitalismus Tür und Tor öffnete, was das Oligarchentum hervorbrachte. Die Grenzen verwischen, die Erinnerung verblasst. Letztlich war es der populistische, machtbesessene und gewaltbereite ­Jelzin, der ­Gorbatschow schwächte und aus dem Kreml drängte. ­Jelzin diskreditierte auch die demokratische Idee in Russland, die von ­Gorbatschow eingeführt wurde, indem er 1993 das Regierungsgebäude in Moskau mit Panzern beschießen ließ. ­Putin beschnitt als neuer Präsident ab dem Jahr 2000 die Presse- und Versammlungsfreiheit und die Rechte des neuen Parlaments.

„Was ist aus der russischen Demokratie bloß geworden“, wird ­Michail ­Gorbatschow von ­Vitaly ­Mansky in dessen Film gefragt. Seine treffende und entwaffnende Antwort lautet: „Warum fragen Sie mich das?“
Bei allen Widersprüchen und Fehleinschätzungen, die man in ­Gorbatschows Wirken entdecken kann, ist er immer einem inneren Kompass gefolgt: Er war geleitet von einem ausgeprägten Humanismus und überzeugt, dass dieser die Grundidee des Sozialismus bildet. ­Michail ­Sergejewitsch ­Gorbatschow hat als Idealist die Welt verändert und bleibt einer der größten Reformer des 20. Jahrhunderts.

Gorbatschow ist bereit, für seine Fehler die Verantwortung zu übernehmen – eine Seltenheit

Vitaly Mansky, Regisseur von „Gorbatschow. Paradies“