»Welt ohne Gewiss­heiten«

Geschichte ganz neu erzählt: „Die Spaltung der Welt: 1939–1962“ zeigt die Epoche des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs – multiperspektivisch und radikal subjektiv.

Frau in rotem 40er-Jahre Outfit mit Kindern.
Die „Spaltung der Welt: 1939–1962“ erzählt Weltgeschichte anhand von sechs historischen Persönlichkeiten. Darunter auch Hedwig Höß (Lara Mandoki), überzeugte Nationalsozialistin und Ehefrau des Kommandanten des Konzentrationslagers Auschwitz. Foto: Lookfilm/ARTE

Sechs Lebenswege und 23 Jahre Weltgeschichte verdichtet auf rund fünf Stunden Filmmaterial – eine Aufgabe, die polnische Regisseurin ­Olga ­Chajdas und Co-Regisseur Frank Devos als großes Experiment bezeichnen. Sie entwickeln in der Dokureihe „Die Spaltung der Welt: 1939–1962“ eine Perspektive, die über Europa hinausgeht und auch Israel, China, die Sowjetunion und die USA in den Blick nimmt. Auf Basis sorgfältiger historischer Recherchen entwirft das internationale Filmteam eine fiktionalisierte Annäherung an die Erfahrungen von sechs ausgewählten Persönlichkeiten. Darunter Hedwig Höß, Ehefrau des Kommandanten des Konzentrationslagers Auschwitz, sowie der kommunistische Funktionär Nikita Chruschtschow, der 1953 mächtigster Mann der Sowjetunion wurde.

ARTE Magazin Frau Chajdas, sind Sie grundsätzlich gut darin, Kompliziertes auf den Punkt zu bringen?

Olga Chajdas Überhaupt nicht. Betrachtet man meine früheren Arbeiten wie den Film „Imago“ (2023), in dem es um die Identitätssuche einer jungen rebellischen Frau im postsowjetischen Polen geht, dann sieht man, dass ich verstrickte Plots mag. Auch im Leben neige ich eher zur Ausschweifung statt zur Zurückhaltung. Das konnte ich mir bei diesem Projekt nicht erlauben, da zählte jede Minute.

ARTE Magazin Die sechs Lebensläufe müssen sehr bewusst ausgewählt worden sein. Es werden dabei teils auch weniger bekannte Figuren der Zeitgeschichte vorgestellt. Warum?

Olga Chajdas Das stimmt, die Drehbuchschreiber und -schreiberinnen haben sich gegen ikonische Bilder und auch dagegen entschieden, nur bekannte und ikonische Figuren in den Fokus zu stellen. Das hat mir und dem zweiten Regisseur Frank Devos viel Freiheit gegeben, diese Zeit mit einem eigenen Blick zu betrachten. Ich kannte anfangs selbst nur ­Golda Meir, die jüdische Aktivistin, die später zur Ministerpräsidentin Israels wurde, sowie ­Nikita ­Chruschtschow. An all die anderen Figuren, etwa Frantz ­Fanon, ein Vordenker der Dekolonialisierung, habe ich mich Stück für Stück herangetastet. Letztlich haben Frank und ich uns dann die Charaktere aufgeteilt, um uns ganz auf deren jeweilige Psychologie, ihre Beweggründe, Träume und Ängste fokussieren zu können.

Die Spaltung der Welt: 1939–1962

Dokureihe

Dienstag, 5.11.
— 20.15 Uhr
bis 2.2.26 in der
Mediathek

Spielszene von Golda Meir mit Pistole
Figur aus der Dokureihe: Golda Meir (Delia Meyer, l.), jüdische Aktivistin und spätere Außenministerin sowie Ministerpräsidentin Israels. Foto: SWR/LOOKSfilm/Mateusz Wichlacz
Spielszene von Frantz Fanon an Wäscheleine
Figur aus der Dokureihe: Der aus Martinique stammende französische Psychiater und Schriftsteller Frantz Fanon (Moussa Sylla) schrieb Anfang der 1960er darüber, dass sich die Kolonien befreien sollten.⁠ Foto: SWR/LOOKSfilm/Mateusz Wichlacz

ARTE Magazin Was hat das für Ihre gemeinsame Arbeit bedeutet?

Olga Chajdas Das betraf insbesondere unsere Aufgaben im Schnitt. Schließlich kommen in jeder Episode mehrere Charaktere vor, deren Wege sich jedoch nicht kreuzen. Wir standen vor der Herausforderung, trotzdem einen Fluss in die Erzählung zu bringen. Und unsere unterschiedlichen Herangehensweisen zusammenzuführen: Während Frank wohl jeden Artikel und jedes Buch über die beteiligten Personen gelesen hat, habe ich mich verstärkt in deren mögliche Motivationen eingefühlt. Um die Geschichten der Charaktere zu unterstützen, haben wir den Dreh in ihren Originalsprachen, etwa in Hebräisch und Russisch, sowie an Originalschauplätzen durchgeführt. Außerdem haben wir teils bislang wenig bekanntes Archivmaterial ausgewählt.

ARTE Magazin Eine verantwortungsvolle Aufgabe, schließlich entwickeln Sie durch das Auswählen und Weglassen bestimmter Bilder und Ereignisse ein subjektives Narrativ dieser Zeit.

Olga Chajdas Ja, das stimmt. Über dieses Problem, das Geschichtsschreibung ja generell hat, haben wir viel gesprochen. Allerdings glauben wir, dass die geschichtlichen Fakten über den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg, die dem Projekt den Rahmen geben, hinlänglich bekannt sind. Wir haben uns daher bewusst für diese radikal subjektive Darstellungsform entschieden und uns auf die Menschen in einer Welt konzentriert, in der alle Gewissheiten wegfallen. So wird diese Zeit emotional greifbarer.

Olga Chajdas am Set mit zwei Schauspielenden
Chajdas (Foto, r.) führte Regie in preisgekrönten Serien wie „The Deep End“ (2022), der ersten polnischen Netflix-Serie „1983“ und in Spielfilmen und Theaterstücken. Foto: SWR/LOOKSfilm/Mateusz Wichlacz

ARTE Magazin Ging es Ihnen dabei auch darum, auf die Verantwortung der Einzelnen in einem gewaltvollen politischen System hinzuweisen? Etwa im Hinblick auf den aktuellen Rechtsruck in Europa?

Olga Chajdas Das ist eine sehr deutsche Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg. Wir waren uns von Anfang an einig, dass es uns nicht um Verantwortung gehen soll. Und erst recht nicht um moralische Urteile. Im Gegenteil. Wir wollten die Vielschichtigkeit der Charaktere aufzeigen. Und natürlich regt die Serie zum Nachdenken darüber an, dass viele heutige Konflikte, etwa in Russland und der Ukraine oder im Sudan, ihre Wurzeln in diesen Jahren haben.

ARTE Magazin Eignet sich die multiperspektivische Erzählform auch gut, um von heutigen politischen Konflikten und Umbrüchen zu erzählen?

Olga Chajdas Eine Vielstimmigkeit ist sicherlich immer wichtig, insbesondere natürlich, wenn man Kriege filmisch darstellt. Nehmen Sie etwa den Israel-­Palästina-­Konflikt. Zudem möchte ich bei jedem neuen Projekt mit anderen Formen des Storytellings experimentieren. Da bin ich kompromisslos. Ich will immer neue Welten zeigen.