»Einzigartiges europäisches Lagerfeuer«

Der 30. Geburtstag von ARTE ist ein Grund zum Feiern. Für die Präsidenten des Senders, Bruno Patino und Peter Weber, ist er vor allem ein Anlass, die Zukunft des Europäischen Kulturkanals zu gestalten.

Kinosessel
Wiedererkennbar: Von Anfang an stach ARTE optisch durch kreative Sendedesigns hervor, etwa mit abstrakten Kinosesseln seit 2017. Foto: ARTE

Zweisprachig deutsch-französisch geht es bei ARTE in Straßburg, Baden-Baden und Paris ohnehin zu. Selbstverständlich wird der Sender auch im Wechsel von einem deutschen oder französischen Präsidenten oder einer Präsidentin geleitet, wobei der oder die Vize dann jeweils die andere Nationalität besitzt. Seit Januar 2021 hat der Franzose ­Bruno ­Patino das Amt des Präsidenten inne, sein Vize ist der Deutsche ­Peter ­Weber. Ein Gespräch über Zukunftsstrategien, Klischees und die Herausforderungen, die Krieg und Krisen an einen öffentlich-rechtlichen Sender stellen.

Unsere Aufgabe ist es, Schlüssel zum Verständnis der Welt zu bieten

Bruno Patino, Präsident ARTE
Illustration von Bruno Patino
Bruno Patino, ARTE-Präsident: Der promovierte Politikwissenschaftler, Jahrgang 1965, war in leitenden Positionen u. a. bei Le Monde, Radio France und ­France ­Télévisions tätig, bevor er 2015 zum ­Editorial ­Director von ARTE France berufen wurde. Seit 2021 ist er Präsident von ARTE GEIE. Illustration: Elisabeth Moch

arte Magazin Ist ARTE, gegründet auf Initiative von Helmut Kohl und François Mitterrand, immer noch Ausdruck der deutsch-französischen Freundschaft? 

Bruno Patino Natürlich! Oder kennen Sie einen anderen Sender, dessen Programm paritätisch von Frankreich und Deutschland geliefert wird, der in beiden Ländern dasselbe Programm ausstrahlt, bei dem Management und Finanzierung zu gleichen Teilen französisch und deutsch erfolgen?

Peter Weber Die Begeisterung für ARTE seit mehr als 30 Jahren ist ein Beweis dafür, dass sich die Vision von Helmut Kohl und ­François ­Mitterrand über alle Erwartungen hinaus erfüllt hat. Das Programm selbst, der Mix aus Kulturangeboten, Filmen und Information aus deutsch-französischer, aber auch aus europäischer Sicht, liefert die beste Antwort.

ARTE ist Treibstoff für den europäischen Aufbruch

Peter Weber, Vizepräsident ARTE
Illustration von Peter Weber
Peter Weber, Vizepräsident ARTE: Der Jurist, Jahrgang 1959, war zunächst Richter und Staatsanwalt, bevor er 1991 ins Justiziariat des ZDF wechselte, dessen Leiter er 2011 wurde. Von 2012 bis 2020 war er Mitglied der Gesellschafterversammlung von ARTE Deutschland. Seit 2021 ist er Vize­präsident von ARTE GEIE. Illustration: Elisabeth-Moch

arte Magazin Herr Patino, wann haben Sie bei der Zusammenarbeit der „Pole“, wie die deutsche und die französische Seite intern genannt werden, zuletzt gedacht: „Typisch deutsch!“? 

Bruno Patino Da fällt mir spontan die sehr unterschiedliche Art und Weise ein, wie Franzosen und Deutsche Meetings leiten: In Frankreich denkt man, dass ein Meeting umso besser ist, je länger es dauert, während in Deutschland kein Meeting ohne Tagesordnung stattfindet, ohne dass die verschiedenen Wortmeldungen im Voraus organisiert werden. Ich bin bei der Leitung meiner Meetings inzwischen mehr Deutscher als Franzose!

arte Magazin Herr Weber, und Sie, wann haben Sie zuletzt gedacht: „Typisch französisch!“? 

Peter Weber In Frankreich kommen auch Diskussionspunkte auf die Tagesordnung. So gelingt guter französisch-deutscher Dialog.

arte Magazin Was ist Ihre persönliche Erklärung, warum ARTE seit 30 Jahren so erfolgreich ist? 

Peter Weber Dafür gibt es mehrere Gründe. In erster Linie die Tatsache, dass ARTE nie von der ihm anvertrauten Mission abgewichen ist: ein Forum der deutschen, französischen und europäischen Kulturen zu sein, um über nationale Grenzen hinwegzuschauen und den Reichtum der Welt um uns herum zu entdecken. ARTE liefert Kontext, zeigt Perspektiven aus anderen Ländern und ordnet ein – ARTE gibt Orientierung. Und das tun wir für ein sich stets wandelndes Publikum, das früher in erster Linie den Fernseher einschaltete und heute auch sehr zahlreich online oder in den sozialen Medien unterwegs ist. All das geht nur mit Kolleginnen und Kollegen, die dieses einzigartige europäische Lagerfeuer mit ihrer Kreativität füttern.

Bruno Patino Wesentlich erscheint mir, dass es dem Sender gelungen ist, die Erwartungen des Publikums immer so genau wie möglich einzufangen. ARTE hat die Bedeutung des Digitalen sofort erkannt und wusste die Vorteile zu nutzen, die diese technologische Revolution mit sich bringt. Wir haben unser redaktionelles Angebot erheblich erweitert und diversifiziert. 60 Prozent der Sendungen auf ­arte.tv sind Inhalte, die speziell für die digitalen Kanäle produziert wurden. Außerdem versteht sich ARTE seit der ersten Stunde als Förderer von Kreativität und neuer Talente. Dafür ließen sich zahlreiche Beispiele anführen, allen voran unser Angebot an Kino- und Spielfilmen, aber auch Serien. Unser Engagement für das Autorenkino in Europa und auch darüber hinaus wird häufig mit Auszeichnungen für ARTE-Koproduktionen bei den großen Festivals belohnt.

ARTE Schriftzug
Schwungvolle Buchstaben von 1992. Foto: ARTE

arte Magazin Ein hartnäckiges Klischee über ARTE ist, dass der Sender vor allem ein Programm für Intellektuelle macht. Ärgert Sie das? 

Bruno Patino Wenn Sie sich unser Programm oder unser Angebot genau ansehen, werden Sie feststellen, dass wir äußerst zugängliche, gar nicht elitäre oder abgehobene Programme anbieten: ­Natur- und Tier­dokumentationen, Archäologie, Filme aus dem klassischen Weltrepertoire und Fiktion für das breite Publikum, Kulturmagazine, wunderbare ­Musik- und Tanzaufführungen, die möglichst viele Menschen ansprechen. Zugegeben – einige Dokumentationen sind dicht und anspruchsvoll, aber: Die Zuschauer folgen uns. Das Publikum ist neugieriger, als behauptet wird.

Peter Weber Das klingt erst mal nach einem Luxusproblem. Möglicherweise haben wir es mit der Kehrseite der formidablen ARTE-Marke zu tun: einerseits ein echter Hingucker, aber es gibt auch einen Rest von Schwellenangst bei einem Teil des Publikums. Wir bieten keine Talk-, Game- oder Unterhaltungsshows an, auch keine Sportübertragungen. Wir sind uns dieses Anspruchs­niveaus bewusst und stehen dazu. Unsere Formate verlangen dem Publikum oftmals etwas ab. Wir bieten eine inhaltliche Eindringtiefe, die längere Aufmerksamkeit erfordert als die Lektüre einer Twitter-­Nachricht. Ich finde es nicht verwerflich, beim Konsum von Bildern und Informationen auch Nachdenklichkeit einzufordern.

arte Magazin Öffentlich-rechtlich finanzierte Sender haben auch einen Bildungsauftrag. Wo verläuft für Sie die Linie zwischen Bildung und Belehrung? 

Bruno Patino Der Sender hatte nie die Absicht, seine Vision der Welt aufzuzwingen. Im Gegenteil. Unsere Aufgabe ist es, der Öffentlichkeit Schlüssel zum besseren Verständnis der Welt zu bieten.

Peter Weber Bildung kann die schönste Unterhaltung sein, wenn sie uns lustvoll auf Augenhöhe begegnet. Bildung ist Teil unseres Auftrags, wie Information, Kultur und Unterhaltung.

arte Magazin Verjüngung ist eine Herausforderung für alle öffentlich-rechtlichen Fernsehsender. Welche Strategie verfolgt ARTE diesbezüglich? 

Bruno Patino Es ist für ARTE zwingend erforderlich, sich an die Konsumgewohnheiten des Publikums zu halten und alle Kanäle zu bespielen, auf denen es unterwegs ist. Der größte Teil unseres Medienkonsums ist heute digital. Die Jüngsten unter uns haben sich sogar komplett vom Linearen abgewandt. Es liegt also an uns, angemessene Antworten auf diese Entwicklung zu finden.

arte Magazin Wie lauten die?

Bruno Patino Die erste besteht darin, unsere Kanäle zu vervielfachen. ARTE ist in den sozialen Netzwerken sehr präsent. Etwa zwei Drittel unserer Videos werden anderswo als auf ­arte.tv gesehen, wobei YouTube mit 40 bis 50 Prozent den Löwenanteil einnimmt. Aber das reicht nicht aus. Wir müssen redaktionelle Inhalte bieten, die junge Menschen gezielt ansprechen: Formate, die geeignet, innovativ und qualitativ hochwertig sind. Wir zeigen etwa sehr originelle 15- bis 20-minütige Webserien, die sehr gut für das Live-­Streaming-­Portal Twitch passen.

Peter Weber Die Nutzer der ARTE-Mediathek sind durchschnittlich zwölf Jahre jünger als unsere Fernsehzuschauerschaft. Und in den sozialen Netzwerken sogar fast 25 Jahre jünger. Im Jahr 2021 konnten wir 1,8 Milliarden Videoaufrufe verzeichnen, das heißt, dass ein großer Teil dieser Programme von Personen zwischen 25 und 34 Jahren gesehen wurde. Wir können im Internet mit den gleichen Inhalten ein jüngeres Publikum erreichen, ohne auf Qualität zu verzichten.

Kopfprojektor
Eigenwilliger Kopfprojektor von 1995. Foto: ARTE

arte Magazin Stichwort Vertrauenskrise in etablierte Medien: Wie lässt sich da gegensteuern? 

Peter Weber Wenn die Studien stimmen, dann genießt ARTE großes Vertrauen beim Publikum. Ein kostbares Gut in diesen Zeiten und nur durch penible Einhaltung journalistischer Standards, durch Qualität und Professionalität zu verteidigen. Was beunruhigt, ist die Erosion von Vertrauen in die Informationen insgesamt.

arte Magazin Wie sollte man damit umgehen? 

Peter Weber Europa erlebt gerade – begleitend zu dem Krieg in der Ukraine – einen vorgeschalteten Informationskrieg, der an Brutalität und Skrupellosigkeit an die finstersten Zeiten des 20. Jahrhunderts erinnert. Das erste Opfer im Krieg ist bekanntlich die Wahrheit. Und dieser Satz ist von beunruhigender Gültigkeit. Wir befinden uns in einem von Lügen und Halbwahrheiten gefluteten audiovisuellen Trommelfeuer, und unsere journalistischen Teams versuchen, darin Orientierung zu geben und Wahres von Falschem zu scheiden.

Bruno Patino Seit Beginn des Krieges in der Ukraine haben wir weite Strecken unseres Programms geändert, um auf die vielfältigen Aspekte dieses Konflikts einzugehen – sowohl historische, politische, wirtschaftliche als auch ideologische. In unseren Themenabenden lassen wir wichtige Themen Revue passieren: die Ordnung der Welt, der Standort Europa, das Klima, Gesundheit, Bildung, künstliche Intelligenz und andere digitale Herausforderungen. Das sind Schutzwälle gegen Irreführungen aller Art.

arte Magazin Welche Rolle spielt ARTE, wenn es um die Stärkung der europäischen Idee geht? 

Bruno Patino Ein Ziel aus dem ARTE-Gründungsstaatsvertrag lautet: „das Verständnis und die Annäherung der Völker in Europa zu fördern“. Noch vor wenigen Wochen wirkte es beinahe banal, weil wir so lange in einem friedlichen Europa lebten. Jetzt nimmt es eine neue Dimension an und stärkt uns in unserem Anspruch als europäisches Medium, die Diversität und Pluralität der Meinungen darzustellen, ja den Glauben an ein geeintes und freies Europa hochzuhalten: frei zu denken, frei zu gestalten und sich frei auszudrücken. Unsere Präsenz in Europa zu steigern, ist ein grundlegender Aspekt unserer Zukunftsstrategie. 85 Prozent des Programms von ARTE sind europäischen Ursprungs. Viele Sendungen sind in vier anderen Sprachen als Französisch und Deutsch verfügbar und werden mit Unterstützung der Europäischen Union untertitelt. Somit können 70 Prozent der Europäer ARTE in ihrer Muttersprache sehen.

Peter Weber In der aktuellen Situation merken wir, dass ARTE kein bloßes Nice-to-have ist. Der freie Austausch von verlässlichen Informationen, das wechselseitige, tolerante Interesse der Kulturen aneinander, vor allem aber die Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit – das sind Bausteine jener europäischen Identität, die gerade auf dem Spiel steht und die wir verteidigen wollen. Auch wenn wir klein sind und noch nicht überall gehört und gesehen werden: Wir sind Treibstoff für den europäischen Aufbruch, den es jetzt unbedingt braucht.

Blume
Skurrile Blumenmenschen aus dem Jahr 1992. Foto: ARTE

arte Magazin Wie sieht Ihr idealer ARTE-Fernsehabend aus? 

Bruno Patino Das ist für mich schwer zu beantworten, da ich mich gerne von den redaktionellen Angeboten von ARTE überraschen lasse. Sagen wir mal so: Mein idealer Abend endet deutlich später als geplant mit einem der vielen Konzerte, die ARTE Concert anbietet.

Peter Weber Er ist für mich nicht zwangsweise ein reiner TV-Abend und lebt vom Zusammenspiel von klassischem linearen Fernsehen, dem Online-Angebot und den sozialen Medien.

arte Magazin Blicken wir in die Glaskugel: Was für eine Art Sender wird ARTE in 20 Jahren zum 50. Geburtstag sein? 

Peter Weber Glaskugeln sind ausgesprochen zerbrechlich, so wie der Traum von einem dauerhaft freien, friedlichen, demokratischen Europa. Die Zukunft von ARTE – und ich möchte hinzufügen: von uns allen – ist fest an diese europäische Idee geknüpft. Sie hängt an der Qualität unserer deutsch-französischen Beziehungen. Und ARTE ist die Visitenkarte dieser Freundschaft. 30 Jahre sind da erst der Anfang.

Bruno Patino Genau so wie Peter Weber verfüge ich über keine Glaskugel. Allerdings haben wir heute einige Errungenschaften, Erfolge und Perspektiven vorzuweisen, die es uns ermöglichen, die Zukunft ehrgeizig und entschlossen anzugehen. Ich wünsche mir natürlich, dass ARTE sich als europäisches Kulturangebot immer weiterentwickelt und eine Referenz für Zuschauer und Künstler bleibt. Die Annäherung der Menschen zu fördern, wird uns auf jeden Fall weiterhin antreiben. In den vergangenen 30 Jahren wurde bereits viel erreicht. Darauf werden wir uns nicht ausruhen!

Platten­spieler
Tanzbarer Platten­spieler von 2004. Foto: ARTE

Die ARTE-Präsidenten und -Vizepräsidenten

seit 2021 Bruno Patino / Peter Weber
2016–2020 Peter Boudgoust / Régine Hatchondo bzw. Anne Durupty
2011–2015 Véronique Cayla / Gottfried Langenstein
2007–2010 Gottfried Langenstein / Jérôme Clément
2003–2006 Jérôme Clément / Gottfried Langenstein
1999–2002 Jobst Plog / Jérôme Clément
1995–1998 Jérôme Clément / Jörg Rüggeberg
1991–1994 Jérôme Clément / Dietrich Schwarzkopf