Durch die moderne Welt verläuft ein großer Strom, den niemand so richtig sehen will: Es ist der Strom der Tiere, die zur Schlachtbank geführt werden. Viele Menschen denken bei Kühen an eine grüne Wiese und bei Schweinen an Stroh und behagliches Grunzen. So suggeriert es die Werbung. Wenn jemand eine Salami in Plastik zur Supermarktkasse trägt, steht der Genuss im Vordergrund – die Umstände der Fleischindustrie bleiben unerwähnt. Der polnische Filmemacher Jerzy Skolimowski hat den Strom der Tiere nun sichtbar gemacht: Sein Roadmovie „EO“ folgt dem Weg eines Esels durch Europa. In der Hierarchie der beseelten Wesen steht der Esel irgendwo am Rand – ein Nutztier, dem man oft störrischen Eigensinn unterstellt. Esel haben nicht die Eleganz von Pferden, aber auch nicht die Anhänglichkeit von Hunden oder Katzen. Und doch besitzt der Esel eine Art eigene Würde – und Skolimowski baut darauf seinen ganzen Film auf.
Zu Beginn der Geschichte gehört der Esel namens EO einem Zirkus in Polen. Seinen Namen hat er von den zwei Lauten, die Esel von sich geben, wobei aus I-A hier E-O wurde. Das Mädchen, das mit ihm in der Manege auftritt, hat den Namen Kasandra (Sandra Drzymalska) gewählt, nach der Unheilsbotin aus der griechischen Mythologie. Kasandra, oder Magda, wie sie eigentlich heißt, hängt an EO. Es ist eine bittere Ironie, dass sie von dem Esel getrennt wird, weil Tierschützer gegen den Zirkus demonstrieren. Dressur sei Folter, kritisieren sie. EO wird deshalb konfisziert und landet in einem Dorf, in dem er als Maskottchen bei der Eröffnung einer Pferdesporthalle herumsteht. In der Folge wird er genau das noch mehrfach tun: herumstehen. Er wirkt dabei wie eine traurige Gestalt im Hintergrund, ein lebendiges Mahnmal der Gleichgültigkeit. Denn niemand weiß etwas mit ihm anzufangen – und auch EO muss erst lernen, seine relative Freiheit zu nutzen. Nach ein paar weiteren Besitzerwechseln ist der Esel irgendwann auf sich selbst gestellt, als Magda wieder auf ihn trifft und ein Tor für ihn öffnet. „Mögen all deine Träume wahr werden!“ Mit diesen Worten schickt sie EO ins Ungewisse.
Haben Esel Träume? Jerzy Skolimowski kann diese Frage nicht beantworten. Er kann nur von außen auf ein Tier schauen, mit dem wenig Kommunikation möglich ist. Die Augen, die immer wieder in Großaufnahme zu sehen sind, sind leer und deuten für die Kamera nur an, was EO vielleicht wahrnehmen könnte. Es ist ein Panorama der heutigen Zivilisation. Von einem Windrad wird dem Esel ein toter Vogel vor die Füße geworfen, Hooligans in Polen wollen ihn „fertigmachen“, und irgendwann findet er sich auf einem der zahllosen Tiertransporte, die tagtäglich durch Europa rollen.
Skolimowski spielt ein wenig mit den Registern des Apokalyptischen, und er erzielt damit umso größere Wirkung, als er alles in die Macht der Bilder stellt. Denn in „EO“ wird wenig gesprochen, nur die nötigsten Dialoge sind zu hören; der tierische Held selbst ist nahezu lautlos unterwegs, gänzlich in sich selbst versunken. Die starke Kameraarbeit von Michal Dymek wird noch verstärkt durch die Musik von Paweł Mykietyn, die virtuos alle Stimmungen zwischen klassischer Klarheit und elektronischer Wucht durchspielt. „EO“ ist ein Kunstwerk, das nicht mit dem Kopf, sondern mit allen Sinnen erlebt werden will. Skolimowski, der im kommunistischen Polen als Filmemacher begonnen hatte und danach das westeuropäische Autorenkino durchlaufen hat, kehrt mit diesem Alterswerk zu einem beinahe experimentellen Stil zurück. Und die französische Schauspielerin Isabelle Huppert, die sich schon lange für einen ethisch korrekten Umgang mit Tieren engagiert, hat ihm das Geschenk eines markanten Auftritts in der Rolle einer Gräfin gemacht.
Zum französischen Kino gibt es eine weitere Brücke: 1966 hat Regisseur Robert Bresson im Drama „Zum Beispiel Balthasar“ ebenfalls von einem Esel erzählt. In vielerlei Hinsicht ist „EO“ ein Remake dieses Klassikers, der in einem französischen Dorf fern der heutigen Welt spielt. Bresson interessierte sich für eine Religiosität, die alle Geheimnisse in der Natur fand – in der menschlichen Natur, aber auch in der eines heiligen Tiers. Skolimowski geht noch ein paar Schritte weiter in diese Richtung und schafft so etwas wie eine Mystik des Kinos für den Esel, der faszinierende, aber auch beklemmende Bildwelten durchläuft. Am Ende taucht ein Gedanke auf, der einen nur bestürzen kann: Ist die Schlachtbank für die Tiere vielleicht sogar eine Art Erlösung? Eine Erlösung von der Herrschaft der Menschen, dieser gnadenlosen Gattung, die sich den ganzen Planeten untertan gemacht hat? Wer eine Antwort darauf erhofft, muss das Schweigen des Esels aushalten.







