Preisfrage: Was haben so gut wie alle bekannten Liebesgeschichten – von „Romeo und Julia“ (1597) bis „Fifty Shades of Grey“ (2005) – gemeinsam? Erstens: Es handelt sich in der Regel um heteronormative Beziehungen, also Mann und Frau, die sich ineinander verlieben. Populäre Ausnahmen mehren sich erst in jüngster Zeit, etwa die queeren Liebesfilme „Blau ist eine warme Farbe“ (2013) oder „Call Me by Your Name“ (2017). Zweitens, und daran hat sich nach wie vor nicht viel geändert, gründen die meisten großen Liebesgeschichten auf der Vorstellung, dass zur Liebe zwei gehören – und zwar genau zwei. Dritte, vierte oder fünfte Protagonisten treten, wenn überhaupt, als Gefahr für die Liebe auf. Treue gilt als Grundvoraussetzung für romantische Beziehungen, Untreue als höchster Verrat.
Obwohl immer weniger Menschen heiraten und mittlerweile fast die Hälfte aller Ehen in Deutschland geschieden werden, halten die Menschen erstaunlich beständig am Konzept der Monogamie fest. Häufigster Scheidungsgrund übrigens: außereheliche Affären. Beziehungen sind heute meist kürzer, aber weiterhin exklusiv; die Wissenschaft bezeichnet dieses Modell als serielle Monogamie. Dabei bedarf es keiner Religion mehr, die Treue fordert. Die meisten Paare – zumindest in der westlichen Welt – verlangen das von sich selbst. „Als Liebende halten wir uns für die vornehmen Protagonisten einer Shakespeare-Verfilmung“, schreibt Michèle Binswanger, Autorin von „Fremdgehen – Ein Handbuch für Frauen“ (2017). Tatsächlich ginge es, zumindest was die Sexualität angeht, ähnlich bunt zu wie bei unseren nächsten tierischen Verwandten, den Affen: Trotz ihrer romantischen Veranlagung sei unsere Spezies nämlich reichlich sexbesessen – und von Natur aus eher polygam veranlagt, so Binswanger.
Die Erfindung der Monogamie
Evolutionsbiologische Untersuchungen geben der Schriftstellerin recht. So hat sich das gesellschaftlich präferierte Modell der Zweierbeziehung erst vor etwa 10.000 Jahren durchgesetzt. Bis dahin lebten unsere nomadischen Vorfahren in egalitären Gruppen, in denen alle alles teilten: von der Jagdbeute über den Sex bis hin zu der daraus erwachsenden Verantwortung für die Kinder. Statt der Kernfamilie stand die Gemeinschaft im Vordergrund, statt der Treue zum Partner die Zugehörigkeit zur Gruppe. Erst mit der Sesshaftwerdung und der Verbreitung von Landwirtschaft und Besitz wurde die Monogamie dann zum Standard-Modell. In erster Linie diente der Treueanspruch den Männern bei der Etablierung einer patrilinearen Erbfolge: Sie konnten sicherstellen, dass der Sohn, der einmal allen Besitz erben sollte, auch wirklich von ihnen stammt. Vater, Mutter, (viele) Kind(er): Die Kernfamilie war von nun an wichtiger als die Gemeinschaft, Treue in der Partnerschaft wichtiger als die Zugehörigkeit zur Gruppe.
Was als Zweckbündnis zur Anhäufung von Wohlstand begann, wurde durch die Weltreligionen endgültig zur gottgewollten Ordnung erklärt. Beispiel Christentum: Die Schöpfungsgeschichte sieht nur zwei Menschen vor – und weil sich Eva, nackt und neugierig, vor lauter Langeweile auf eine Schlange einlässt, wird sie mitsamt Adam aus dem Paradies vertrieben. Draußen erwartet sie eine Welt voll Schuld und Scham, in der die Ehe als heilig gilt – und außerehelicher Sex als Sünde. Weibliche Lust wird in der christlichen Gesellschaft tabuisiert, Homosexualität verteufelt.
„Ein rigides moralisches Konzept, das bis heute Wirkung zeigt“, urteilt Michèle Binswanger. Nach Ansicht der Schriftstellerin scheitern moderne Beziehungen nicht aufgrund von Untreue, sondern wegen falsch verstandener Treue. Vielleicht, vermutet sie, betrügt uns gar nicht unser Partner, sondern die Liebe selbst. Die wurde während der Spätromantik zu einem rosaroten Phantasma verklärt, an das wir zwar gerne glauben – an dem Beziehungen aber reihenweise scheitern. Der Treueanspruch an die Partnerin oder den Partner hat mittlerweile keinen wirtschaftlichen oder religiösen Hintergrund mehr, sondern ist zum Selbstzweck geworden.
„Monogamie ist nicht in unserer natürlichen Hardware festgelegt“, sagt der Berner Paartherapeut Klaus Heer im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Seit fast 50 Jahren empfängt er in seiner Praxis Paare, denen dieser Umstand zum Verhängnis wurde. Bei den meisten lief die Beziehung anfangs wie von allein: „Solange wir verliebt sind, kommt nur fugenlose Treue infrage“, so Heer. Doch sobald diese bedingungslose Begeisterung abkühle – und das geschehe unaufhaltsam –, schrumpfe die gemeinsame Komfortzone drastisch. Das Fazit seines persönlichen und professionellen Lebens: „Die Liebe ist monogam, aber der Mensch ist es nicht“, sagt der 79-Jährige. Er rät, sich darauf gefasst zu machen, dass sich „das Romeo-und-Julia-Ideal nicht ewig durchhalten lässt“. Ein Grund zum Verzagen sei das nicht. Im Gegenteil: „Beziehungen sind Experimentierfelder“, betont Heer. Menschen und Paare seien erfinderisch, wenn es darum geht, Partnerschaften neu zu denken. Wie das aussehen kann, umreißt die Dokureihe „Wie wollen wir lieben?“, die ARTE im Februar zeigt. Darin erzählen junge und alte, heterosexuelle und queere, monogame und polyamouröse Paare, wie sie lieben – mit allen Freuden und Leiden. Alternative Beziehungsformen werden von Expertinnen und Experten unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen ebenso unter die Lupe genommen wie die klassische Monogamie. Eine perfekte Form der Liebe? Die gebe es nicht, sagt Klaus Heer: „Unsere Liebe ist unruhig suchend, solange wir lebendig sind.“
Die Liebe ist monogam, aber der Mensch ist es nicht