Am 20. November 1975 hielt Carlos Arias Navarro, letzter Ministerpräsident der spanischen Franco-Diktatur, im Fernsehen eine Ansprache: „Españoles … Franco ha muerto“, sagt er mit Tränen in den Augen. „Spanier … Franco ist tot.“ Arias trauerte wie alle Franquisten – doch in vielen Wohnzimmern in Spanien flossen an diesem Tag Freudentränen: General Francisco Franco hatte nach dem Sieg der Nationalisten im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) eine autoritäre Militärdiktatur errichtet, die fast vier Jahrzehnte Bestand hatte. Das ARTE Magazin spricht mit Walther L. Bernecker, Historiker und emeritierter Professor für Auslandswissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, über den Übergang zur Demokratie nach Francos Tod – und über Versäumnisse bei der Aufarbeitung der Diktatur.
ARTE Magazin Herr Bernecker, Sie sind in Spanien zur Schule gegangen – während der Diktatur. Wie blicken Sie zurück?
Walther L. Bernecker Ich bin von 1954 bis 1966 auf die deutsche Schule in San Sebastián gegangen, wo meine Eltern als Lehrer arbeiteten. Das war die harte Zeit der Diktatur. Die deutsche Schule war jedoch ein abgegrenzter Raum und hatte im Gegensatz zu spanischen Schulen einen liberalen Ansatz. Politische Themen blieben allerdings ausgespart – ähnlich wie in Deutschland nach 1945, wo der Geschichtsunterricht meist vor dem Dritten Reich endete.
ARTE Magazin Eine zentrale Maßnahme der Transición, also des Übergangs von Diktatur zu Demokratie, war der sogenannte Pakt des Schweigens. Was war der Inhalt?
Walther L. Bernecker Der Pakt des Schweigens war eine informelle Vereinbarung hinter den Kulissen mit dem Ziel, den Franquisten ihre Zustimmung zu den Reformen abzuringen. Das hatte einen Preis. Der Franco-Staat war ein Unrechtsregime mit Tausenden Toten und massiven Menschenrechtsverletzungen. Unter rechtsstaatlichen Prinzipien hätten die Verantwortlichen vor Gericht müssen, wie es in Deutschland mit vielen Nazis der Fall war. In Spanien geschah das nicht. Die Franquisten mussten zwar ihre politische Macht abgeben, durften aber ihren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einfluss behalten. Bankdirektoren und Industrielle blieben im Amt, die vielen Opfer wurden nicht entschädigt. Diese fehlende Aufarbeitung ist bis heute eine offene Wunde.
ARTE Magazin Längst fordern Nachfahren der Opfer eine intensive Aufklärung der Verbrechen unter Franco …
Walther L. Bernecker Es gibt noch immer rund 100.000 verscharrte Leichen, die nicht auf Friedhöfen bestattet sind. Zahlreiche Bürgerinitiativen öffnen Massengräber und identifizieren die Skelette, um sie zu bestatten. Begonnen haben damit die Kinder der Erschossenen, dann folgten die Enkel – heute übernimmt es die Generation der Urenkel.
ARTE Magazin Mit dem „Gesetz des historischen Gedächtnisses“ hat Spanien 2007 erstmals Richtlinien für den Umgang mit der Franco-Zeit festgelegt. Was genau bedeutet das?
Walther L. Bernecker Durch das Gesetz gibt es eine staatliche Anerkennung aller Opfer aus der Franco-Zeit – allerdings keine Entschädigung. Bis 2007 hatte der Staat etwa Exhumierungen zur Privatsache erklärt, jetzt stellt er immerhin Mittel zur Suche nach Leichen bereit. Das Gesetz ist ein sehr wichtiger Schritt – auch wenn er nicht freiwillig erfolgte, sondern auf Druck der UNO-Menschenrechtskommission.
ARTE Magazin Laut dem Historiker Carlos Collado Seidel ist Spanien heute, was seine Diktatur betrifft, auf dem Aufklärungsstand der BRD in den 1970ern. Stimmen Sie zu?
Walther L. Bernecker Ja, das hängt mit der Transicíon zusammen. Wir neigen dazu, den raschen Übergang zur Demokratie als Errungenschaft zu feiern, doch zur Wahrheit gehört auch: Es hat keinen Bruch gegeben. Die Transición war eine Reform der Institutionen – von oben, aus dem System heraus. Deshalb konnten sich die alten, teils korrupten Eliten auch nach 1975 halten. Bis heute existieren in Spanien offen faschistische Organisationen wie die Stiftung Francisco Franco. Personell schwach, besitzen sie dennoch große Mobilisierungskraft und haben mittlerweile Verbindungen zur ultrarechten Vox-Partei.
ARTE Magazin Derzeit regiert in Spanien ein Linksbündnis. 2027 wird neu gewählt. Was würde ein Rechtsruck bedeuten?
Walther L. Bernecker Mit Sicherheit eine Unterbrechung der Aufarbeitung. Das zeigt sich schon in Regionen wie Valencia, Aragón oder Kastilien-León, wo Konservative mit Vox regieren: Dort wurde die Aufarbeitung sofort gestoppt, Gelder gestrichen, und Straßennamen, die bereits geändert wurden, bekamen wieder Namen aus der Franco-Zeit. Auf nationaler Ebene wäre Ähnliches zu erwarten. Vollständig aufhalten lässt sich die Aufarbeitung jedoch nicht mehr – dafür ist das zivilgesellschaftliche Engagement viel zu stark.





