Geschichten aus dem Schnee

DIVERS Zur Frankfurter Buchmesse stellt ein ARTE-Schwerpunkt das Gastland Kanada vor. Mit dabei: Nachwuchsautorin und Inuit Aviaq Johnston.

FOTO: ACACIA JOHNSON

Wie ihre Vorfahren ist ­Aviaq ­Johnston in Schnee und Eis zu Hause. Die Schriftstellerin gilt als große Hoffnung der kanadischen Literatur. Sie steht stellvertretend für viele Kolleginnen und Kollegen, die sich auf ihre Ursprünge beziehen. Wie vielfältig sie sind, davon berichtet die vierteilige­ Doku­reihe „Kanada – Literatur im Aufbruch“.

ARTE MAGAZIN Kanada ist das Gastland der Frankfurter Buchmesse. Können Sie beschreiben, was die zeitgenössische Literatur des Landes ausmacht?
Aviaq Johnston Kanada ist ein diverses Land, sowohl was seine Bevölkerung als auch die Landschaft angeht, und das spiegelt sich in unserer Literatur wider. Gerade indigene Autorinnen und Autoren sind sehr stark. Und auch die Queer- und LGBTQ-Literatur ist erfolgreich.

ARTE MAGAZIN Es heißt, in der kanadischen Literatur gebe es ein besonderes Verhältnis zur Natur. Trifft das auch auf Ihre Bücher zu?
Aviaq Johnston In der Inuit-Kultur, in der ich aufgewachsen bin, gibt es schon immer eine sehr starke Verbindung zur Natur, mit dem kalten Klima, dem ständigen Winter und dem einzigartigen Tierreich.

ARTE MAGAZIN Sie leben in Iqaluit, der Hauptstadt von Nunavut. Seit etwa 4.000 Jahren leben dort Inuit im subarktischen Klima.
Aviaq Johnston Das Eis ist immer präsent, es kann seine Beschaffenheit schnell und ständig ändern, als hätte es eine eigene Persönlichkeit. Von ihr hängt unser Alltag ab, etwa, wie wir an unsere Nahrung kommen. Deswegen ist es für mich selbstverständlich, dass in meinen Büchern die Natur ähnlich einer Figur auf die Geschichte wirkt.

ARTE MAGAZIN Stimmt es eigentlich, dass die Inuit viele verschiedene Worte für Schnee haben?
Aviaq Johnston Es ist ein lustiges Vorurteil, dass wir hundert Worte für Schnee haben, dabei ist es eher so wie in anderen Sprachen. Es gibt einfach viele Beschreibungen seiner Beschaffenheit: Pulverschnee, harter, weicher, glatter, üppiger Schnee.

ARTE MAGAZIN Das Eis wird von den Inuit als Highway benutzt. Auch von Schulbussen?
Aviaq Johnston Wir haben Schlitten, die mehrere Menschen transportieren können. Die könnte man mit Bussen vergleichen. Wenn das Eis extrem dick ist, können auch Busse darauf fahren. Wir haben auch Feste, die wir auf dem Eis feiern.

ARTE MAGAZIN Mit Ihren Büchern wollen Sie einer jungen Generation von Inuit eine Stimme geben. Was sind die Themen, die sie beschäftigen?
Aviaq Johnston Die indigenen Völker Kanadas haben mit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie Afroamerikaner in den USA. Polizeigewalt ist auch bei uns ein Thema. Unser Protest wird lauter, die Forderungen nach Besserung stärker. Das Trauma der Kolonialisierung, das über Generationen nachwirkt, führt in vielen Fällen zu Drogenmissbrauch und Gewalt untereinander. So kommt es auch zum größten Problem, das wir haben: einer sehr hohen Selbstmord­rate. Schreiben ist mein Weg, all dies zu bewältigen, und ich hoffe, meine Bücher helfen auch anderen dabei.

Kanada – Literatur im Aufbruch

4-tlg. Dokureihe
ab Sonntag, 4.10. • 10.25 Uhr
je 36 Monate in der Mediathek

FOTO: AVIAQ JOHNSTON

ARTE MAGAZIN  Ihr Roman „Those Who Run In The Sky“ über den jungen Schamanen Pitu basiert auf alten Sagen der Inuit.
Aviaq Johnston Er enthält zumindest viele Verweise auf unsere Mythologie. Für Inuit sind Legenden ein großer Teil des Alltags, die Älteren reden darüber, als wären sie Wirklichkeit. Und in bestimmter Weise sind sie das. Wir halten an diesem Wissen fest, das die christlichen Missionare zur Sünde erklärt haben. Erst in den letzten Jahrzehnten haben wir angefangen, die Geschichten wieder stolz zu erzählen.

ARTE MAGAZIN In der Dokumentation „Literatur im Aufbruch“, die bei ARTE gezeigt wird, beschreiben Sie die Inuit als lustige Kultur.
Aviaq Johnston Wir wachsen mit dem Lachen auf. Als Kind dachte ich oft, Ältere würden mich necken. Aber heute weiß ich, dass wir Inuit nicht sticheln, um Gefühle zu verletzen, sondern weil wir glauben, dass man durch Fehler versteht und lernt. Wenn ich heute ausgelacht werde, lache ich einfach mit.

ARTE MAGAZIN Sollten alle Ihre Bücher lesen, weil sie humorvoll sind?
Aviaq Johnston Auch, weil es darin viel über unsere Kultur und Traditionen zu erfahren gibt. Man kann sogar ein wenig unsere Sprache lernen.

ARTE MAGAZIN Was ist Ihr Lieblingswort auf Inuit?
Aviaq Johnston Uakallangaa. Damit kann man ein Gefühl von Überwältigung ausdrücken. „Oh, Uakallangaa!“ bedeutet, von Gefühlen übermannt zu sein. Es kann sowohl eine positive Stimmung ausdrücken, aber auch wenn einem etwas oder jemand viel zu viel wird. Das beschreibt mich sehr gut, so geht es mir oft.