Gutes Leben? Zu teuer!

Filme wie „Ich, Daniel Blake“ zeigen die Probleme der britischen Arbeiterklasse. Warum die Situation in Deutschland ähnlich ist, erklärt die Autorin Julia Friedrichs.

Illustration, Arbeiterklasse, Arbeit
Illustration: Andrea De Santis

Es war ein Frühling des Respekts, gar der Verehrung, den viele Menschen, die zur neuen Arbeiterklasse in Deutschland zählen, der Working Class, zu Beginn der Corona-­Pandemie erlebten. Plötzlich galten all diejenigen, die sonst weitestgehend unbeachtet reinigen und liefern und pflegen und kassieren, als Krisenheldinnen und Krisenhelden. Im Bundestag erhoben sich Abgeordnete – stehender Beifall für all die, die mit ihrer Arbeit „buchstäblich den Laden am Laufen halten“, wie Kanzlerin ­Angela ­Merkel dankte. Und ­Herbert ­Grönemeyer dichtete: „Sie sind die Helden dieser Zeiten / Unsere Rückgrate / Unser Stand / Trauen ihre Grenzen weit zu überschreiten / Für dich und mich / Nehmen’s Land in ihre Hand.“

Als ich damals wie so oft mit Sait vor der Berliner U-Bahn-Station, die er Tag für Tag reinigt, einen Kaffee trank und redete, rührte ihn die plötzliche Zuneigung. „Gut fürs Gemüt“, nannte er sie und sagte: „Jetzt in der Krise merkt ihr, dass alles den Bach runtergeht, wenn wir nicht wären.“ Gleichzeitig aber befürchtete er, dass der Applaus, der Dank schnell verklingen würde, ohne dass sich grundsätzlich etwas geändert hätte. Wer Ken Loachs Drama „Ich, Daniel Blake“ anschaut, das ARTE im Mai ausstrahlt, der versteht, warum Sait Morgen für Morgen weitermacht, obwohl sich auch nach dem Frühjahr der Rührung nicht wirklich etwas geändert hat und er als Corona-­Prämie nur einen 20-Euro-­Einkaufsgutschein bekam.

Ich, Daniel Blake

Drama

Mittwoch, 19.5. — 20.15 Uhr
bis 25.5. in der Mediathek

„Es knirscht an allen Ecken“
Seit 18 Jahren reinigt Sait, der auf eigenen Wunsch nur mit ausgedachtem Vornamen genannt wird, die U-Bahnhöfe unter der Stadt als Angestellter eines Dienstleisters der Berliner Verkehrsbetriebe. Um halb sieben füllt er seinen Putzwagen mit Reinigungsmitteln, Mopps, Blausäcken und Handpappe, dann kehrt und wischt er, leert die Mülleimer und putzt, falls die Zeit reicht, über Flächen und Rolltreppen. Als ich ihn kennenlernte, lag sein Lohn bei 10,56 Euro brutto pro Stunde, inzwischen sind es knapp über elf Euro. Gut 1.600 Euro brutto verdient Sait im Monat. Er hat zwei Kinder. Seit Kurzem machen beide eine Lehre, zum Glück. Denn vorher ging Sait zum Amt und ließ seinen Lohn aufstocken. „Mit meinem Geld könnten wir nicht leben“, sagt er. „Es knirscht an allen Ecken.“ Vieles sei teurer geworden: die Miete, 700 Euro, für drei Räume, der Strom, die Sozialabgaben. „Dass sich jemand wie ich ein gutes Leben leisten kann, ist vorbei.“

Sait ist einer der Menschen, die ich für mein Buch „Working Class“ begleitet habe. Außer ihm habe ich mich mit Musikschullehrern getroffen, die auf Honorarbasis arbeiten, mit Büroarbeitern und Verkäuferinnen. Oft wird behauptet, die Arbeiterklasse in Deutschland verschwände. Ich denke, das ist ein Trugschluss, der darauf fußt, dass wir uns an veralteten Bildern und Definitionen festhalten. Heute schuften Arbeiter nicht mehr unter Tage, nur selten in der Fabrik am Fließband. Sie reinigen, wie Sait, sie unterrichten, sie schleppen Pakete die Treppe hinauf und Schmutzwäsche wieder hinunter, sie sitzen an der Supermarktkasse oder füllen Regale. Sie verlegen schnelles Internet und antworten an der Hotline. Sie pflegen Opa oder uns, wenn wir krank sind.

Die Working Class ist vielfältig geworden – weiblicher, migrantischer, eher in Dienstleistungsberufen angestellt –, aber noch immer gilt: Es sind Menschen, die arbeiten, um Geld zum Leben zu haben. Menschen, die keine Unternehmensanteile halten, über keine Mietshäuser verfügen, keine Erbschaften erwarten. Menschen, für die es heißt: Nettoeinkommen gleich Monatsbudget. Folgt man dieser Logik, sind auch in Deutschland die meisten Menschen Arbeiter. Denn obwohl die Wirtschaft nun ein Jahrzehnt lang wuchs, hat die Mehrheit in diesem Land kaum Kapital, kein Vermögen. Die Menschen sind angewiesen auf den Ertrag ihrer Hände, ihrer Köpfe. Viele von ihnen haben den Eindruck, dass Arbeit allein nicht mehr genügt, um sich Wohlstand aufzubauen.

Gut drei Millionen Menschen in Deutschland verdienen weniger als 2.000 Euro brutto, obwohl sie Vollzeit arbeiten, zehn Millionen bekommen weniger als zwölf Euro die Stunde. Seit 2010 nimmt die Ungleichheit der Jahreseinkommen in Deutschland wieder zu. Besonders stark steigen Löhne und Gehälter der reichsten zehn Prozent. Das ärmste Drittel hat in den zurückliegenden drei Jahrzehnten nur wenig vom Wachstum in Deutschland profitiert oder sogar verloren. Die Generation nach den Babyboomern ist die erste nach dem Zweiten Weltkrieg, die in der Mehrheit nicht die eigenen Eltern wirtschaftlich übertreffen wird. Und doch hört man, wenn man sie nicht gerade zu Krisenhelden kürt, die Stimmen der Working Class in Deutschland viel zu selten. Das liegt auch daran, dass die meisten, die dieses Land regieren und lenken, die es deuten, in den Talkshows diskutieren oder den Debatten im Netz neue Twists geben, in anderen Sphären schweben.

Sait hingegen hat Angst davor, wie Filmprotagonist ­Daniel ­Blake mit der Arbeit auch die Herrschaft über sein Leben zu verlieren – und am Ende nur ein Klient, eine Nummer, ein Kunde im Amt zu sein.

Die Working Class ist vielfältig geworden

Julia Friedrichs, Journalistin