Im Schatten des Riesen

Die Weltmacht China will den Inselstaat Taiwan notfalls mit Gewalt an sich binden. Taiwans Jugend fürchtet nichts mehr als das – und kämpft für eine unabhängige Identität.

Farbe bekennen: Bei der Sonnenblumenbewegung demonstrierten 2014 Zehntausende Menschen gegen eine chinafreundliche Politik von Taiwan. Foto: AM YEH, AFP, Getty Images

Es war ein Affront, wie ihn der mächtige Staatsapparat der Volksrepublik China selten erlebt: Im September 2020 präsentierte die taiwanische Regierung mit einer feierlichen Zeremonie den Reisepass des Inselstaats im neuen Design. Die Worte „Republic of China“ waren verkleinert und in das Hoheitszeichen eingebettet worden, der goldene Schriftzug „Taiwan“ hingegen vergrößert und fett gedruckt. Mehr Sichtbarkeit, so die Begründung, solle in Zukunft Verwechslungen mit chinesischen Staatsangehörigen verhindern. Der neue Pass, der Taiwan großschreibt, ist Ausdruck eines erstarkenden Selbstbewusstseins – und eine Antwort auf den politischen und wirtschaftlichen Druck Chinas. Denn die Volksrepublik betrachtet das Eiland als ihr Territorium – eine abtrünnige Provinz, die in den Schoß des Mutterlands zurückkehren muss. Zur Not, das hat Staatschef Xi ­Jinping deutlich gemacht, auch mit militärischer Gewalt. Die US-Zeitschrift The Economist bezeichnete den Inselstaat deshalb unlängst in einem Artikel als den „gefährlichsten Ort der Welt“ – und warnte vor einem Krieg zwischen den Weltmächten USA und China, ausgelöst durch die sogenannte Taiwan-Frage.

Taiwan – Demokratielabor im Schatten Chinas

Geopolitische Doku

Dienstag, 13.7. — 21.45 Uhr
bis 10.9. in der Mediathek

Die in Taipeh stattfindende Pride-Parade gilt als größtes LGBTQ-Event Asien. Foto: SAM YEH, AFP, Getty Images

„Taiwan steht an vorderster Front. Es ist eine Demokratie – ein Bollwerk gegen den chinesischen Autoritarismus“, sagt Außenminister ­Joseph Wu in der ARTE-Dokumentation, die das Unabhängigkeitsstreben der Insel beleuchtet. Es ist ein Kampf, den insbesondere die junge Generation mit Mut und großer Entschlossenheit führt. „Heute streiten junge Leute mit ihren Eltern, wenn diese sie auffordern, für die Anhänger der Wiedervereinigung zu stimmen“, sagt Taiwans ehemalige Vizepräsidentin ­Annette Lu. Denn anders als viele ältere Taiwanerinnen und Taiwaner pflegen die jungen keine nostalgisch gefärbte Liebe zu Festlandchina. Laut einer Studie der National Chengchi University betrachten sich 78 Prozent der unter 30-Jährigen nicht als chinesisch, sondern ausschließlich als taiwanisch. Das ist ein historischer Tiefststand – und laut ­Annette Lu ein Trend, der anhalten wird. „Die Jungen wehren sich“, sagt die Politikerin. Für die Millennials-Generation, die mit dem Internet und sozialen Medien aufgewachsen ist, seien Meinungsfreiheit und Menschenrechte nicht verhandelbare Errungenschaften. In China sieht man das bekanntlich anders.

Der Streit um den Status Taiwans geht auf den chinesischen Bürgerkrieg (1927–1949) zurück, als die Truppen der national­chinesischen Kuomintang (KMT) nach ihrer Niederlage gegen die Kommunisten nach Taiwan flüchteten und eine Diktatur errichteten. Erst 1992 kam es zu ersten demokratischen Wahlen auf der Insel. „In Taiwan gibt es den Ausdruck ‚tien-ran-du‘“, sagt der deutsch-taiwanische Aktivist ­William ­Schimetschka von der Jungen Taiwan Initiative im Gespräch mit dem ­ARTE Magazin. Eine Redewendung, die sich mit „Unabhängigkeit im Blut“ übersetzen lasse und die für Taiwanerinnen und Taiwaner angewendet wird, die nach 1987 und damit nach dem Ende der vier Jahrzehnte andauernden Militärdiktatur geboren wurden. „Der Konsens lautet: Wir sind Taiwaner, Taiwan ist unser Land. Und die Jungen verfügen über das Know-how, sich über die sozialen Medien zu vernetzen und Gehör zu verschaffen.“

Oppositionsgeist an der Staatsspitze
Was das bedeutet, sah man 2014, als Zehntausende Studierende über mehrere Wochen das Parlament in Taipeh besetzten, weil sie die Chinapolitik ihrer Regierung als unterwürfig empfanden. Die sogenannte Sonnenblumenbewegung verhinderte schließlich ein von der Regierung geplantes Handelsabkommen mit China und brachte den Oppositionsgeist von den Straßen an die Staatsspitze. Bei der Präsidentschaftswahl 2016 gewann Tsai Ing-wen, die Kandidatin der traditionell China-­kritischen Fortschrittspartei (DPP), gegen den Herausforderer der konservativen KMT. 2020 wurde Ing-wen wiedergewählt.

„Die entscheidenden Stimmen für die Wahlsiege brachten junge Menschen“, betont Jhy-Wey Shieh, der Repräsentant Taiwans in Deutschland. Botschafter darf Shieh sich nicht nennen – denn während Taiwan sich weiter von China abgrenzt, isoliert die Regierung in Peking die Insel vom Rest der Welt. Das bedeutet: Staaten, die Taiwan als Land anerkennen, verwehrt die Volksrepublik diplomatische Beziehungen. Weil China ein wichtiger Handelspartner ist, geben die meisten Länder diesem Druck nach – auch die Bundesrepublik. „Das ist eine Kränkung. Eine Nichtanerkennung der Zeit, in der Taiwan sich als vorbildliche Demokratie entwickelt hat“, sagt ­Shieh im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Die Insel mit ihren 24 Millionen Einwohnern erfülle heute alle Kriterien der Nationalstaatlichkeit, sei allein aber zu schwach, sich gegen China zu behaupten. Hoffnung mache ihm die politisch aktive Jugend. Für sie sei die über Generationen weitergetragene Taiwan-Frage geklärt, denn: „Taiwan ist keine Frage, sondern eine Antwort.“

Der Konsens lautet: Wir sind Taiwaner, Taiwan ist unser Land

William Schimetschka, Mitglied der Jungen Taiwan Initiative