»Inszenierung hat Tradition«

Ein Gespräch über den Expressionisten und Dresdner Brücke-Künstler Ernst Ludwig Kirchner, der seinen eigenen Kritiker erfand.

Kirchners Wahlheimat „Davos im Winter“ von 1923, Foto: Sepia Times Universal Images Group Getty Images

Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) steuerte sein Werk mithilfe der Kunstfigur Louis de Marsalle, für die er eine eigene Biografie erfand. Unter diesem Pseudonym schrieb der Künstler positive Kritiken über sich selbst. Betrug oder Selbstvermarktung? Der Kulturwissenschaftler ­Wolfgang ­Ullrich hat dazu eine klare Haltung.

arte magazin Herr Ullrich, Sie unterteilen die Kunstwelt in Ausstellungskunst und Siegerkunst. Wie ist das gemeint?
Wolfgang Ullrich Ausstellungskunst ist auf den musealen Raum bezogen, sie hat keinen kommerziellen Fokus. Es geht um den Dialog zwischen Kunstwerk und Rezipient. Siegerkunst ist klar auf einen Preis und einen Besitzer bezogen. Nicht das Verändern des Rezipienten, sondern das Repräsentieren des Besitzers steht hier im Vordergrund.

arte magazin Mit dem Erfinden seiner Kritikerfigur möchte ­Kirchner das Wahrnehmen seiner Kunst beeinflussen und stellt es in den Vordergrund. Würden Sie ihn als Ausstellungskünstler bezeichnen?
Wolfgang Ullrich Ja. Kirchner würde ich ganz klar zur Ausstellungskunst einordnen, so wie die gesamte klassische Moderne. Kirchner war nicht an Glamour interessiert wie heutige Siegerkünstler. Er würde nicht auf ein Angebot von ­Louis ­Vuitton hoffen, gemeinsam Handtaschen zu machen.

arte magazin Welche Funktion hatte der imaginäre Kunstkritiker für Kirchner und sein Werk?
Wolfgang Ullrich Sicher wollte er mit dieser Art der Postproduktion den Diskurs seiner Kunst beeinflussen. Selbstinszenierung hat eine lange Tradition, mit Begriffen wie Manipulation sollte man vorsichtig sein. Es geht darum, die künstlerische Arbeit über das Werk hinaus fortzusetzen. Vielleicht ist ­Kirchner in einen inneren Dialog getreten, um psychische Spannungen auszulagern. Interessant ist, dass er mit dem Franzosen seinen Kulturkreis verlässt – möglicherweise, um den damals eskalierten Konflikt des Kultur-­Nationalismus mit Frankreich zu überwinden.

Ernst Ludwig Kirchner – Furchtbar genial

Kunstdoku

Sonntag, 28.3. — 16.15 Uhr
bis 24.6. in der Mediathek

arte magazin Hätte sich Kirchner heute eine andere Figur ausgedacht?
Wolfgang Ullrich Schwer zu sagen. Ein erfundener Kritiker afrikanischer Abstammung wie ­Louis de ­Marsalle wäre heute vielleicht sogar noch provokanter. Man könnte ­Kirchner virtuelles Blackfacing vorhalten. Ich finde es sehr zeitgemäß, sich nicht auf die Identität zu beschränken, die wir einer Sozialisierung verdanken, und die Chancen der Fiktionalisierung zu nutzen. Heute werden fiktive Figuren bei Instagram entworfen, um ein überhöhtes Bild des eigenen Lebens in Szene zu setzen. So was könnte man einem ­Kirchner auch zutrauen.

arte magazin Kirchner hat sich selbst zur Marke gemacht. Verbindet ihn das mit heutigen Künstlern?
Wolfgang Ullrich Kirchner hat in seinen Werkphasen hohe Wiedererkennbarkeit erschaffen. Zu guter Markenpolitik gehört aber eine Optimierung der Effizienz, die ich bei ­Kirchner nicht erkenne. Er wollte sich in die Geschichte der Kunst einreihen. Siegerkünstler wie Jeff Koons fragen sich heute nicht, wie sie als Fortsetzung von ­Andy ­Warhol erscheinen, sondern wo sie Märkte und Zielgruppen erschließen können.

arte magazin Kirchner schuf bewusst Skandale und wird heute auch mit Pädophilie, Sexismus und Kolonialismus in Verbindung gebracht …
Wolfgang Ullrich Posthum ja. Ich denke aber, darauf hat er es nicht abgezielt. Sicher haben halbwüchsige Modelle schon zu seiner Zeit für Gerüchte gesorgt. Aber es war nicht auf so eine Frivolität ausgelegt, wie man das heute wahrnimmt.

arte magazin Wie bewerten Sie das Abhängen von Kunstwerken diskreditierter Künstler, etwa dass ­Angela ­Merkel Bilder von Emil Nolde im Kanzleramt abhängen ließ?
Wolfgang Ullrich Der Zusammenhang spielt eine große Rolle. In dem Fall halte ich es für richtig, da Kunstwerke an einem solchen Ort eine besondere Funktion haben. Vor diesen Bildern trifft man sich mit Staatsgästen; oft sind sie Gesprächsstoff, um einen Dialog anzufangen. Sie sollten keine zwielichtigen politischen Botschaften lancieren. In Museen kann Kunst besser kontextualisiert werden.

arte magazin Könnte es sein, dass bald auch Werke von Ernst Ludwig Kirchner abgehängt werden?
Wolfgang Ullrich Er ist nicht so in Misskredit geraten, dass es geboten wäre, seine Kunst abzuhängen. Ich sehe da keinen Handlungsbedarf.

arte magazin Kirchners „Berliner Straßenszene“ wurde 2006 nach der Restitution für fast 30 Millionen Euro versteigert. Wird sein Nachlass damit zu Siegerkunst?
Wolfgang Ullrich Ein hoher Preis ist noch kein Kriterium für Siegerkunst. Das wird sie erst, wenn ein Bild explizit repräsentativ eingesetzt und von einem Privatmenschen ersteigert wird, der das Kunstwerk als Besitzer ausweidet.

Heute werden fiktive Figuren bei Instagram entworfen

Wolfgang Ullrich, Kulturwissenschaftler und Autor