»Elefant im Raum«

Wann wirkt eine Sexszene im Film realistisch? Und wie dreht man sie so, dass sich alle wohlfühlen? Die Intimitätskoordinatorin Ita O’Brien berät zu Dingen, die andere peinlich finden.

Ita O'Brien, Intimitätskoordinatorin
Die Britin Ita O'Brien abeitet für Kino- und Serienproduktionen wie „Normal People“, „I May Destroy You“ oder „Sex Education“. Foto: Dean Sewell/NYT/Redux/laif

Den Job von Ita O’Brien gab es vor ein paar Jahren noch gar nicht. O’Brien, die in Großbritannien lebt, ist Intimitätskoordinatorin. Sie setzt sich mit der Inszenierung von Liebesszenen und Nacktheit, aber auch von Gewalt auf der Leinwand auseinander. Dafür berät sie Filmteams am Set, spricht mit Regisseuren, Produzenten und Darstellern. Das Ziel: heikle Szenen vor der Kamera so umzusetzen, dass hinterher alle mit dem Ergebnis zufrieden sind – und die Illusion für das Publikum perfekt ist. Auch seit Bewegungen wie ­MeToo immer mehr Details über Übergriffe im Filmgeschäft bekannt werden, ist Ita O’Brien international gefragt. Schließlich sind große Hollywoodproduktionen kaum noch ohne Intimitätskoordinatoren vorstellbar, wie die Dokumentation „Prüdes Hollywood“ zeigt. Mittlerweile bildet sie Coaches aus vielen Teilen der Welt aus.

ARTE Magazin Frau O’Brien, wie hat man früher bei einem Filmdreh die Sexszenen gehandhabt?

Ita O’Brien Sie waren der Elefant im Raum: Alle wussten, dass sie kommen würden, aber niemand sprach darüber. Irgendwann musste der Regisseur dann doch mit den Schauspielerinnen und Schauspielern reden. Manche sagten einfach: „Regelt ihr das unter euch.“ Oder: „Ich stelle mir das so vor – geht einfach vor die Kamera und legt los.“ Viele Filmemacher haben mir erzählt, wie nervös sie waren, weil sie nicht wussten, wie sie solche Szenen choreografieren sollten.

Prüdes Hollywood – Laster, Lust und Leidenschaft im Film

Kulturdoku

Mittwoch, 9.4. —
22.20 Uhr
bis 7.7. in der
Mediathek

Zwei Frauen küssen sich
Frage der Übung: In Workshops lernen Filmschaffende und angehende Intimitätskoordinatoren, wie man eine intime Szene choreografiert. Foto: Dean Sewell / NYT / Redux / laif

ARTE Magazin Wieso wurden sie vorher nicht geprobt?

Ita O’Brien Es gab dafür schlichtweg keinen professionellen Prozess, der alle Beteiligten darauf vorbereitete. Wenn man einen Stunt organisiert, spricht man vorher darüber. Man plant, organisiert, übt. Tatsächlich kann man Intimitätskoordinatoren mit Stunt-Koordinatoren vergleichen: Wir kümmern uns um die technische Anleitung und zeigen, wie etwas echt wirkt, obwohl es simuliert ist. Wir prüfen, was die Schauspieler selbst übernehmen können und was nicht. Im Vordergrund steht dabei das Einverständnis aller Beteiligten – sozusagen als Teil des Risikomanagements.

ARTE Magazin Wie genau gehen Sie vor?

Ita O’Brien Ich mische mich nicht in die Geschichte ein. Manche Regisseure haben Angst, wir würden ihnen die Kontrolle nehmen. Stattdessen unterstützen wir sie dabei, die Szene so gut wie möglich umzusetzen. Ein großer Teil meiner Arbeit liegt in der Vorbereitung. Manche Schauspieler sind erfahren, kennen sich gut und wollen improvisieren. Andere sind neu in der Branche – dann wird alles genau choreografiert. Ich spreche mich mit der Kostümabteilung ab. Es werden spezielle Kleidungsstücke oder Kissen eingesetzt, wenn nötig. Wenn der Dreh ansteht, kläre ich mit den Schauspielerinnen und Schauspielern, welche Körperteile sie bereit sind nackt zu zeigen, wo sie berührt werden können. Man geht die Szene durch: Wie sind die Machtverhältnisse, wie ist der Rhythmus der Situation? Wenn klar ist, wie die körperliche Erzählweise abläuft, können sich die Schauspielerinnen und Schauspieler beim Dreh ganz auf ihre Rolle konzentrieren.

ARTE Magazin Hat die Bewegung um MeToo die Einführung solcher Regeln begünstigt?

Ita O’BrienSie war ein enormer Impuls. Früher hatten Schauspielerinnen und Schauspieler große Angst zu sagen: „Ich möchte mein Oberteil nicht ausziehen.“ Leute, die „Nein“ sagten, galten als schwierig oder unprofessionell. Das Motto war: Du bist Schauspielerin, du musst mutig sein – das ist dein Aufgabenbereich. Es war undenkbar, beim Vorsprechen mit dem Regisseur darüber zu reden, was einem unangenehm ist. Der Fall ­Weinstein war ein Wendepunkt. In der Branche wusste man vorher schon, was schieflief. Nun durfte man nicht länger wegsehen.

Sharon Stone sitzt rauchend auf einem Stuhl
Hinter den Kulissen: Sharon Stone machte bekannt, über eine freizügige Szene im Thriller „Basic Instinct“ (1992) getäuscht worden zu sein. Foto: picture alliance / Photoshot

ARTE Magazin Darstellerinnen wie ­Sharon ­Stone haben berichtet, wie sie beim Dreh überrumpelt oder schlicht darüber belogen wurden, was in intimen Szenen zu sehen sein würde.

Ita O’Brien Das war der Fall bei „­Basic ­Instinct“. Eigentlich fand ich die intimen Szenen darin schön, sie wirkten sehr frei. Aber meine Güte, wenn man erfährt, dass ­Sharon ­Stone getäuscht wurde, sieht man das Ganze mit anderen Augen. Sie erfuhr erst von der Ausrichtung der Aufnahme, in der sie die Beine öffnet und wieder schließt, als sie schon im Kino saß und gemeinsam mit der Crew den fertigen Film sah. Daraufhin ging sie zu Regisseur Paul ­Verhoeven und ohrfeigte ihn. Sie hatte keine Möglichkeit gehabt, Einspruch gegen diese Szene zu erheben. Das ist ein weiterer wichtiger Teil unseres Prozesses: dass die Schauspielerinnen und Schauspieler in der Lage sind, einen intimen Inhalt zu sehen, bevor es der Rest der Welt tut.

ARTE Magazin Studien zeigen, dass junge Menschen heute weniger Sex auf der Leinwand sehen wollen.

Ita O’Brien Es gibt leider keine besonders gute Sexualaufklärung, gleichzeitig ist überall Pornografie verfügbar. Das hat meiner Meinung nach einen verzerrenden Effekt. Jugendliche fühlen sich verpflichtet, alles zu wissen. Dabei weiß kaum jemand irgendwas! Es entsteht eine Kluft zwischen dem, was im echten Leben passiert, und dem, was ihnen vermittelt wird.

ARTE Magazin Wie realistisch finden Sie intime Inhalte, die Sie im Fernsehen oder im Kino sehen?

Ita O’Brien Ich finde, sie werden besser. Doch sobald etwas anatomisch nicht passt, bin ich raus. Manchmal denke ich: Das sah jetzt aber holprig aus – da hätte man jemanden am Set gebrauchen können.