Mehr als tausend Worte

Mit wegweisenden Bildreportagen und Aufnahmen vieler Größen aus Literatur, Kunst und Politik prägte Gisèle Freund die Fotografie des 20. Jahrhunderts. Porträt einer sensiblen Beobachterin.

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Abgelichtet: Die in Gisèle Freund verliebte Frida Kahlo (1907–1954) malt Selbstporträts, während sie ans Bett gefesselt ist. Foto: Gisele Freund_Photo Researchers History_Getty Images

Auf die Frage, was eine gute Fotografin ausmacht, antwortete Gisèle Freund nonchalant: „Ein einziges Foto muss die ganze Persönlichkeit zusammenfassen.“ Sie sagte es, als wäre nichts leichter als das. Es war wohl diese unbekümmerte Art, die dafür sorgte, dass die Berliner Fotografin mit jüdischen Wurzeln so viele Menschen in ihren Bann zog. Allein ihre Porträts prominenter Zeitgenossen spiegeln fast die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts, wie eine ARTE-­Dokumentation im Juli zeigt. Bevorzugt fotografierte Freund andere Kreative, etwa ­James ­Joyce, ­Frida ­Kahlo, ­Hermann ­Hesse, ­Jean-Paul ­Sartre, ­Simone de ­Beauvoir und ­Virginia ­Woolf. Darüber hinaus hielt sie knapp ein Jahrhundert lang fest, was um sie herum passierte. Viel kann man von ihrem bewegten Leben lernen; schließlich gelang es ihr, zwei Weltkriege zu überleben, ferne Länder zu bereisen und eine internationale Karriere aufzubauen.

Gisèle Freund – Ein Leben für die Fotografie

Porträt

Sonntag, 4.7. — 16.25 Uhr
bis 1.9. in der Mediathek

Gisèle Freund, Fotografie, Porträt, Virginia Wolf
Virginia Woolf (1882–1941) bei der Lektüre im Jahr 1939, zeit-typisch mit Zigarettenspitze. Foto: Freund_Archives Gisèle Freund_IMEC_Fonds MCC_Dist.Rmn _photos Gisèle Freund_ARTE F

Als Sophia Gisela Freund, die sich später in Gisèle umbenannte, am 19. Dezember 1908 im heutigen Berliner Stadtteil Schöneberg zur Welt kam, stand die Kleinbildkamera kurz vor dem Durchbruch. In dieser Zeit fingen Damen gerade an, Fahrrad zu fahren. Während Freunds Großvater seinerzeit ein Vermögen mit der Erfindung des Hosenrocks gemacht hatte, war ihr Vater Julius Freund Kunstsammler. Dank seiner Leidenschaft für schöngeistige Dinge entdeckte die junge ­Gisela ihre Liebe zu Kunst und Fotografie. Zur Nachbarschaft ihres Elternhauses zählten illustre Persönlichkeiten wie Albert Einstein, den sie „den Mann mit dem großen Hut“ nannte. Zu Hause hingen Gemälde wie die „Kreidefelsen auf Rügen“ von ­Caspar ­David ­Friedrich. Bei einem Besuch des Malers Max ­Liebermann hörte Freund ihn sagen: „Wenn wir längst tot sind, wird das Bild noch existieren“ – ein Satz, der sie nachhaltig prägte. Zum Abitur bekam sie schließlich ihre erste Kamera geschenkt, eine Leica. Diese sollte den Grundstein für ihre Karriere legen. Bald darauf erschien ihre erste Reportage für die Kölner Illustrierte. In einem ARTE-­Interview blickte Freund 1993 auf diese Zeit zurück: „An der Fotografie reizte mich, dass ich mich ausdrücken konnte, meine Gefühle für andere Menschen. Nicht mit der Absicht, ein Kunstwerk zu schaffen; was mich interessierte, war immer der Mensch.“

Gisèle Freund, Fotoreportage
Reportage über Mexiko: Ein Bauer kehrt von einer Pilgerreise zurück. Foto: Archives Gisèle Freund_IMEC_Fonds MCC_Dist.Rmn _photos Gisèle Freund_ARTE F

Während die Nationalsozialisten 1930 die Machtergreifung vorbereiteten, schrieb sich Gisèle Freund am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main ein. Ihre Lehrer, darunter ­Theodor W. ­Adorno, ermutigten die junge Fotografin, sich auf gesellschaftliche Themen zu fokussieren. So besuchte sie etwa die letzten Demonstrationen antifaschistischer Gruppen, bevor die Naziherrschaft begann. Die politischen Unruhen und die wachsende Bedrohung hielten die jüdische Deutsche nicht davon ab, eine illegale Studentenzeitschrift zu publizieren. Auch Freunds Flucht aus Deutschland kann als Widerstand gedeutet werden: An ihrem Körper schmuggelte sie einen Film an der Gestapo vorbei, der Nazi-Vergehen dokumentierte. In Paris angekommen, schrieb sie – so wie der Philosoph ­Walter ­Benjamin – an der Sorbonne an ihrer Dissertation. Die Surrealisten ­Louis ­Aragon, ­Elsa ­Triolet und ­André ­Breton nahmen Freund währenddessen ebenso herzlich auf wie die Verlegerin ­Adrienne ­Monnier, die sie in ihrem Buchladen in der Rue de ­L’Odéon in weitere Sphären der Literaturszene einführte.

Gisèle Freund, Fotografie
Gisèle Freund in ihrer Wahlheimat Paris, 1976. Foto: picture-alliance_akg-images_Marion Kalter

Zwischen Krieg und Diplomatie
Eine neue Wende nahm Gisèle Freunds Leben, als die Schriftstellerin ­Victoria ­Ocampo sie nach Buenos Aires einlud. In der Folge reiste die Berlinerin quer durch Südamerika – immer dabei: ihre Kamera. „Ich war so naiv zu glauben, die Fotografie könnte helfen, die Völker einander näher zu bringen, was Kriege verhindern würde“, sagte sie später. Kurz nach Kriegsende wurde sie von der Fotoagentur Magnum engagiert. Ihre Reportage für das Life Magazine über die Präsidentengattin Eva „­Evita“ ­Péron sorgte 1950 für eine diplomatische Krise: Die vermeintliche Wohltäterin offenbarte sich als Diva mit Hang zum Luxus. Stolz präsentierte sie Freund ihre 500 Paar Schuhe und die ebenso große Diamanten-Kollektion. Das Magazin erhielt in Argentinien Publikationsverbot – Freund verließ das Land. Die nächste Station: Das mexikanische Zuhause des Künstlerpaars ­Diego ­Rivera und ­Frida ­Kahlo. Die emanzipierten Frauen fühlten sich eng verbunden, in ihrem blauen Haus verliebte sich ­Kahlo in Freund. Neben vielen Liebesbriefen schenkte die an Schmerzen leidende Kahlo der Reisenden zum Abschied einen Ring mit den Worten „Vergiss Frida nicht“.

Bis in die 1960er hinein arbeitete Freund weiter für zahlreiche Zeitschriften, darunter das Time Magazine; ihre Werke reisten vielfach in Einzelausstellungen um die Welt. Ab 1970 fotografierte sie nur noch selten – eine Ausnahme: ein Porträt des französischen Präsidenten ­François ­Mitterrand. Im Jahr 2000 verstarb die an Alzheimer erkrankte Fotografin im Alter von 91 Jahren in ihrer Wahlheimat Paris.