Meister der Lebendigkeit

Kunstgiganten wie Michelangelo Buonarroti, Rembrandt van Rijn und Vincent van Gogh scheinen heute populärer denn je. Was war ihr Geheimrezept? Ein Gespräch über gezielte Markenbildung mit Kurator Jochen Sander.

Rembrandt, Rijksmuseum, Landschaft mit Steinbrücke
Publikumsmagnete: ­Rembrandt schuf Werke wie „Landschaft mit Steinbrücke“ (1638) nach seinem eigenen Credo: „größte Lebendigkeit und größte Natürlichkeit“. Foto: Rijksmuseum Amsterdam

Michelangelo, Rembrandt, van Gogh – auch wenn jeder Künstler seinen ganz eigenen Stil erfand, haben sie etwas gemeinsam: Ihre Werke sind zeitlos und in den großen Museen der Welt ausgestellt. Was macht manche Kunstschaffende zu Ikonen auf dem umkämpften Markt, während andere unbekannt bleiben? Ihre Wege zum – teilweise posthumen – Ruhm sind so unterschiedlich wie ihre Kunst, sagt Jochen Sander, Kurator der aktuellen Rembrandt-Ausstellung im Frankfurter ­Städel Museum. Bei einigen scheint es tatsächlich bewusste Marketing-Strategien zu geben, wie er im Interview mit dem ARTE Magazin verrät.

arte magazin Herr Sander, wie schaffen es Künstler, als Superstars gefeiert zu werden?
Jochen Sander Kunst, die es versteht, uns unmittelbar anzusprechen, ist erfolgreich – egal, ob es sich um ein Werk der Alten Meister oder eines gegenwärtigen Künstlers handelt. Das muss aber nicht immer schon auf Anhieb funktioniert haben. Van Gogh etwa verkaufte seinerzeit kaum ein Bild. Sein Erfolg begann posthum. Rembrandt hingegen hat sich und seine Kunst – ähnlich wie etwa die zeitgenössischen Künstler ­Damien Hirst oder Jeff Koons – bereits zu Lebzeiten als Marke etabliert.

arte magazin Rembrandt ist heute immer noch ein Publikumsmagnet. Was macht ihn so inte-ressant im 21. Jahrhundert?
Jochen Sander Rembrandt erweckt seine Figuren zum Leben. Er ist ein Geschichtenerzähler, bringt das Drama auf den Punkt. Er präsentiert mythologische und biblische Szenen durch die Interaktion seiner Charaktere derart überzeugend, dass sich ihre Betrachter direkt angesprochen fühlen. Er ist ein sorgfältiger Beobachter von Oberflächen, Stofflichkeit und Emotionen. Seine Figuren sind nie eindimensional, lassen Interpretationsfreiheit. Ein prägnantes Beispiel ist ­Delilah in ­Rembrandts „Die Blendung ­Simsons“, die Frau, die ihren Geliebten verrät. Ihr Gesicht zeigt gleichzeitig Triumph und Entsetzen, als sie sieht, was ihr Verrat anrichtet. Solch emotionale Nuancen lassen das Bild schwer deuten. Diese Vielschichtigkeit macht ­Rembrandts Kunst bis heute besonders ansprechend und gegenwärtig.

Giganten der Kunst

Dokureihe

ab Sonntag, 5.12. — 16.15 Uhr
bis 3.1.2022 in der Mediathek

van Gogh, Weizenfeld, Blick auf Arles, 1888
Vincent van Goghs „Weizenfeld mit Blick auf Arles“ (1888). Foto: picture alliance/Fine Art Images/Heritage Images

arte magazin Können Sie Gemeinsamkeiten erkennen, die Rembrandt und anderen Kunstgiganten zum Erfolg verhalfen?
Jochen Sander Sie besaßen sicher ein solides Selbstbewusstsein und das Talent, Rückschläge einzustecken. Rembrandt und Dürer etwa setzten auf die Vervielfältigung ihrer Kunst – zwei so unterschiedliche Künstler teilten ein Interesse an Druckgrafik, für eine effektive Reproduktion.

arte magazin Es steckte also ein unternehmerischer Geist in den Künstlern?
Jochen Sander Sicher. Bei Dürer und ­Rembrandt war das ganz ausgeprägt, bei ­Rubens genauso. Bei van Gogh eher weniger.

arte magazin Der Wiedererkennungswert ist sicher ein wichtiger Faktor. Gibt es dafür ein Geheimrezept?
Jochen Sander Eine unverwechselbare Handschrift, ein Alleinstellungsmerkmal ist immer Trumpf. In ­Rembrandts Bildern spielt Licht eine große Rolle. Wie mit einem Bühnenscheinwerfer weiß der Inszenator die entscheidenden Momente zu beleuchten. ­Sein Zeitgenosse ­und künstlerischer Rivale Rubens setzte ganz stark auf das Vorbild der Antike. Wenn er den vom Kreuz genommenen Christus darstellt, gleicht das keinem zerschlagenen, toten Körper wie bei Rembrandt, sondern einem herkulischen, wie aus dem Bodybuilding-Studio kommenden Helden.

Rembrandt, Selbstbildnis
Bitte lächeln: Rembrandts Selbstbildnis, an einer Steinmauer lehnend (1639), ist derzeit im Frankfurter Städel Museum ausgestellt. Foto: Städel Museum

arte magazin Dürer und Rembrandt sind auch für ihre Selbstbildnisse bekannt. Kann man sie, aus der Perspektive des digitalen Zeitalters, als
Selfie-Pioniere bezeichnen?
Jochen Sander Dürer oder Rembrandt haben mit ihrem Interesse am Selbstbildnis eine gewisse Ähnlichkeit mit dem, was man heute Influencer nennen würde. Insofern: ja.

arte magazin Van Gogh schnitt sich ein Ohr ab, Rembrandt scheiterte verarmt, Michelangelo wurde entstellt. Wie sehr beeinflusste Leid den künstlerischen Ruhm der Alten Meister?
Jochen Sander In der Tat war van Gogh manifest psychisch krank. ­Michelangelo wurde als junger Mann von einem Konkurrenten unglücklich ins Gesicht getroffen – Nasenkorrektur-OPs gab es damals noch nicht, sodass er für den Rest seines Lebens diese Deformation der Nase hatte. Und der alte Rembrandt fiel aus dem Geschmack seiner Zeit. Er war zuletzt wirtschaftlich bankrott, er konnte wirklich schlecht mit Geld umgehen. Trotzdem wurde er die meiste Zeit seines Lebens von einem großartigen Erfolg getragen. Es sind drei so extrem unterschiedliche Einzelfälle – kaum möglich, da eine verallgemeinernde Schlussfolgerung zu ziehen.

arte magazin Die Namen der Alten Meister suggerieren, ein Genie sei per se männlich. Warum ist das so?
Jochen Sander In der Kunst vor dem 19. Jahrhundert waren die sozialen Bedingungen, unter denen eine Frau selbstständig agieren konnte, nicht gegeben. Das ist das Problem. Es gibt kaum Werke von Künstlerinnen zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert, da den meisten Frauen verwehrt wurde, eine Lehre einzugehen. Die paar Künstlerinnen, die wir aus der Zeit kennen, wie ­Catharina van ­Hemessen oder Artemisia ­Gentileschi, waren fast alle Töchter von Malern. Das war ihre Chance, ihre Begabung ausleben zu können. Es gibt viele Werke von Frauen, die unter dem Namen eines männlichen Künstlers laufen.

Rembrandts und Dürers Interesse am Selbstbildnis ähnelt dem, was man heute Influencer nennt

Jochen Sander, Kurator
Jochen Sander, Porträt
Jochen Sander, Kurator: Der Kunsthistoriker ist stellvertretender Direktor des Frankfurter Städel Museums sowie Sammlungsleiter für deutsche, holländische und flämische Malerei vor 1800. Die von ihm kuratierte Ausstellung im Städel Museum „Nennt mich Rembrandt!“ ist bis zum 30.1.2022 zu sehen. Foto: picture alliance/Frank Rumpenhorst/dpa

arte magazin Wie wurde aus dem Müllersohn aus Leiden letztendlich die Marke Rembrandt?
Jochen Sander Rembrandt war kein tumber Müllersgehilfe. Schon in jungen Jahren etablierte er sich als Sohn eines saturierten Handwerkers zum Wunderkind. Er genoss eine Ausbildung, besuchte immerhin kurz die Leidener Universität. Durch den Sekretär des Statthalters und Kenner der Kunstszene, ­Constantijn ­Huygens, erlangte er die Aufmerksamkeit des Hofes. In seinen Zwanzigern zog es ­Rembrandt in die aufsteigende Welthandelsmetropole Amsterdam, wo um 1630 eine Boom-Stimmung und ein aktiver Kunstmarkt herrschten. Der Zugezogene setzte gezielt Marketing-Instrumente ein: Er nutzte seinen seltenen Vornamen, um dezidiert auf sich aufmerksam zu machen – ein strategischer Vorteil. Und ein Signal an alle Kunstinteressierten: „Hier kommt ­Rembrandt!“ Er erschuf eine Marke, wie 100 Jahre zuvor ­Rafael oder ­Tizian. Bereits in Leiden fertigte er Selbstbildnisse an, die als Anschauungsmaterial für potenzielle Kunden dienten. Er malte sich in selbstbewussten Posen. Sein Antlitz ließ er immer wieder in Historienbildern auftauchen, um bekannter zu werden – Self-Promotion, sozusagen.

arte magazin Kann man also von einer Strategie der Künstlerwerdung sprechen?
Jochen Sander Mit Sicherheit. ­Rembrandt war als Universalist sehr gefragt. In Amsterdam baute er eine Werkstatt auf, um die große Nachfrage zu bedienen. Zu ihm kamen ausgebildete Künstler, die er als Gesellen beschäftigte. Er verfolgte eine sehr marktorientierte Strategie, die erfolgreich war. Als begabter Radierer und Grafiker verkaufte er die Fertigungszustände seiner Druckgrafiken. Und er machte Abzüge von den Zwischenständen, die er vermarkten konnte – zur Gewinnmaximierung, versteht sich.

arte magazin Welchen Fokus hat Ihre Ausstellung?
Jochen Sander Wir zeigen, wie ­Rembrandt auf große Konkurrenz am Kunstmarkt traf, als er in Amsterdam ankam, und wie diese fordernde und anregende Situation Kreativität freisetzt. Wir stellen seine Werke in einen Dialog mit Mitbewerbern, Weggefährten, Nachfolgern. Es zeigt, wie hochwertig die Kunstproduktion zu ­Rembrandts Zeit war, wie viele Optionen es neben ihm gab. Umgekehrt macht der Vergleich umso deutlicher, was ihn ausmacht. In einem der wenigen noch erhaltenen Briefe an einen Auftraggeber schrieb ­Rembrandt sein Credo auf: „größte Lebendigkeit und größte Natürlichkeit“.

Feldhase, Dürer, 1502
Ein Gegenüber auf Ohrenhöhe stellt uns Dürer mit dem „Feldhase“ (1502) vor. Foto: Fine Art Images/Heritage Images/Getty Images

Die Marke „Dürer“

Auch nach 550 Jahren ist Albrecht Dürer ein Phänomen. Über den Aufstieg eines Selbstvermarkters.

Er gilt als Meister der Malerei: Schon zu Lebzeiten war Albrecht Dürer begehrt. Wie wurde der Sohn eines Goldschmieds, den ARTE in einem Dokudrama porträtiert, zum zeitlosen Star? Am 21. Mai 1471 erblickte ­Dürer in Nürnberg im Zentrum des deutschen Humanismus das Licht der Welt. Als Drittgeborener musste er 15 sterbende Geschwister miterleben. Seine Lehre zum Goldschmied brach er ab, um Maler zu werden. Dürers Angetraute, Agnes, fungierte als Managerin und vertrieb seine Kunst – bald zählten sie zu den 100 reichsten Familien Nürnbergs.

Seinen Erfolg verdankt ­Dürer wohl auch der Fähigkeit, sich als Marke zu etablieren. Er setzte auf Vervielfältigung: Grafikdrucke machten ihn finanziell unabhängig von Bestellern aufwendiger Gemälde – und europaweit bekannt. Dank entlohnter Kommissionäre und hoher Auflagen erreichte er ein Massenpublikum. Um Plagiate zu unterbinden, verewigte er sein Monogramm als Markenzeichen. Selbstporträts, in denen er sich unbescheiden als Christus idealisiert, dienten als Werbung.

Die wichtigste Zutat für seinen Erfolg bleibt wohl ­Dürers Talent. Der Aufsteiger und Selbstvermarkter verbindet das Schöne und Schonungslose, den Glauben und die Natur nahezu mühelos. Er nimmt es so neugierig, realistisch und fantasievoll mit der Natur auf, dass man meinen könnte, sein Hase springt gleich aus dem Bild. Auch nach seinem Tod 1528 verstehen es ­Dürers Werke, das auf den ersten Blick Unscheinbare mit Bedeutung aufzuladen.

Dürer

Dokudrama

Samstag, 4.12. — 20.15 Uhr
bis 3.3.2022 in der Mediathek