Milliarden für die digitale Souveränität

Die Abhängigkeit von IT-Giganten aus den USA und Asien wird für die EU zum Problem. Der Weg zur Eigenständigkeit in der Digitalwirtschaft kostet viel Geld – und führt über die Bildung.

Porträt mit roten Lichtstreifen
Foto: Vincent Forstenlechner / Connected Archives

Wir haben gelernt zu zoomen, wir kaufen Waren lieber online als im stationären Handel, unsere Kinder lernen per Fernunterricht, wir erledigen wichtige Behördengänge im Netz: Die Digitalisierung und Virtualisierung hat fast alle Bereiche des Arbeits- und Privatlebens erfasst und geht – so scheint es – mit Riesenschritten voran. Bei näherer Betrachtung sieht die digitale Realität aber viel ernüchternder aus.

„Jahrzehntelang waren viele europäische Politiker und Unternehmen der Ansicht, dass sie für die Digitalisierung und Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft genug täten“, sagt ­Philip ­Meissner, Direktor des European Center for Digital Competitiveness (ECDC) an der ESCP Business School in Berlin. Dessen jährlich veröffentlichter Digital ­Riser ­Report misst den Fortschritt bei der Digitalisierung weltweit und kam 2021 zu dem Ergebnis, dass „in fast allen relevanten Bereichen der Digitalwirtschaft sowie bei der Cybersicherheit inzwischen Unternehmen aus den USA und anderen nicht­europäischen Ländern die Standards setzen“. Das gelte sowohl für das heutige Internet, das Web 2.0, als auch für das künftige Web 3.0, das in wenigen Jahren die reale mit der virtuellen Welt dreidimensional verknüpfen soll. „Die technischen Grundlagen und Systeme für dieses sogenannte Meta­verse werden maßgeblich von Unternehmen in den USA und Fernost geschaffen“, so ­Meissner im Gespräch mit dem ARTE Magazin. „Europas Nachholbedarf ist immens.“

Immerhin hat die EU-Kommission erkannt, dass Eile geboten ist, um nicht vollends abgehängt zu werden. Im Februar 2022 stellte sie den European Chips Act für die Entwicklung digitaler Schlüsseltechnologien vor. Davon soll insbesondere die Halbleiter­industrie profitieren, deren Produkte etwa in E-Autos, Smartphones, Kameras und vielen weiteren Gegenständen des täglichen Gebrauchs unersetzlich sind. Das dafür vorgesehene Budget in Höhe von elf Milliarden Euro ist zwar im Vergleich zu den Investitionen global agierender IT-Konzerne eher schmal, es soll aber reichen, „um die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Player in diesem Markt zu sichern“, sagt ­Margrethe ­Vestager, EU-Kommissarin für Wettbewerb und Digitales. Ziel: Bis 2030 solle Europas Halbleiterbranche einen weltweiten Marktanteil von mehr als 20 Prozent erreichen (derzeit rund zehn Prozent).

Auf dem „Weg in die digitale Dekade“, so der ­Slogan des EU-Programms Digitaler Kompass Europa, müsse freilich auch die Dateninfrastruktur verbessert werden, so ­Vestager. Bis zum Ende des Jahrzehnts plant die EU daher den flächendeckenden Ausbau des 5G-Netzes. Spätestens ab 2030 sollen zudem alle Bürgerinnen und Bürger eine digitale Gesundheitskarte bekommen und viele Behördengänge online erledigen können; derzeit können dies EU-weit nur 75 Prozent.

Oasen für die Bildungswüste

„In Deutschland ist die Digitalisierung besonders stark ins Stocken geraten“, sagt ­ECDC-Chef Meissner. Die Bundesrepublik rangiert im Digital Riser Report 2021 im europäischen Vergleich an vorletzter Stelle, knapp vor Albanien. Große Defizite gebe es im Bildungs- und im Verwaltungssektor, bei der Start-up-Finanzierung und bei der Entwicklung von Hochleistungsrechnern.

Damit die von der EU-Kommission geplanten Maßnahmen hierzulande auf fruchtbaren Boden treffen, müsse daher der Bildungssektor dringend modernisiert werden, betont ­Meissner. „Wir sollten uns dabei an fortschrittlicheren Ländern wie Frankreich oder Estland orientieren, wo Kinder bereits in der Grundschule den Umgang mit digitalen Werkzeugen und Angeboten lernen.“ In der „digitalen Bildungswüste Deutschland“, so ­Meissner, gebe es noch immer zu wenig Oasen.