Mit Körper und Seele

Little Richard und Frank Sinatra hatten sie, Aretha Franklin und Amy Winehouse ebenso: die Magie in der Stimme, die große Popmusik so besonders macht. ARTE widmet diesen Gesangswundern den Summer of Voices.

Amy Winehouse
DIe Britin Amy Winehouse schrieb mit ihren Soul- und Jazz-Hits Popgeschichte. Sie starb 2011 im Alter von 27 Jahren nach jahrelangem Alkohol- und Drogenmissbrauch. Foto: Grenville Charles

Body and Soul“, Körper und Seele: So heißt das letzte Lied, das Amy Winehouse vor ihrem Tod aufgenommen hat, im Duett mit Tony Bennett. Das war im März 2011; vier Monate später starb sie an den Folgen ihres ­Alkohol- und Drogen­konsums. „Body and Soul“ gehört zu den unvergänglichen Standards des Jazz, erstmals aufgenommen 1930, später von vielen großen Sängerinnen und Sängern interpretiert, etwa von ­Billie ­Holiday, Frank ­Sinatra und ­Ella ­Fitzgerald: eine melancholische Ballade über die Körper und Seele verzehrende Liebe zu einem Menschen, der diese Liebe nicht zu erwidern vermag; einerseits ganz einfach – und andererseits hoch kompliziert in ihrem Wechsel der Tonarten und dramatisch darin, wie die Stimme sich schließlich in Verzweiflung und schmerzhafte Verlassenheitsbekundung steigert.

„Body and Soul“ ist ein Lied, das mit dem ganzen Körper und der ganzen Seele gesungen wird. Amy ­Winehouse hat während ihrer kurzen Karriere viele Menschen berührt und bewegt, wegen ihres schönen, wandlungsreichen Gesangs, aber auch weil man diesem Gesang immer eine tiefe Verletzlichkeit abhören konnte – man hörte darin einen Körper und eine Seele, ein Leben. So ist es im Pop eigentlich immer gewesen: Die großen Popstimmen, die uns berühren – die eine Aura besitzen oder, wenn man so möchte: eine Magie –, das sind schon immer Stimmen gewesen, in denen ein Körper und eine Seele zu hören sind.

Die magischen Stimmen des Pop

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Top of Pop: Zu den Gesangswundern der Gegenwart zählt FKA Twigs – hier beim Lolla­palooza Festival in Chicago, 2015. Foto: Tim Mosenfelder, Getty Images

„The Voice of Frank Sinatra“: So heißt das erste Album, das Frank Sinatra als Solokünstler im Jahr 1946 aufnimmt. Er ist der Inbegriff des Sängers, der ganz in seiner Stimme aufgeht: „The Voice“ wird auch in den folgenden Jahrzehnten seiner Karriere sein zweiter Name sein. Dass Sinatra seine Stimme „ist“: Das heißt, dass er scheinbar ohne jede Anstrengung singt, lässig, cool, selbstverständlich, erotisch, als ob er nur seiner natürlichen Intuition folgt. ­Sinatra ist ganz nah am Ohr seiner Hörerinnen und Hörer, sein Gesang ist von größter Intimität. Das liegt aber nicht nur an seinem Talent, sondern auch am Fortschritt in der Aufzeichnungstechnik, der in den Vierzigerjahren die Produktion von Popmusik beflügelt: Die Mikrofone sind so gut und so sensibel geworden, dass sie die Stimmen wie von selbst in die Köpfe des Publikums bringen.

Schlichtes, elementares Geschrei
Sinatras Stimme ist cool, das heißt: Sie ist kühl, ohne dabei Kälte oder gar Abweisung auszustrahlen. Denn natürlich ist sie auch immer romantisch; er umgarnt und umzirzt seine Liebesobjekte, indem er sich zurücknimmt und mit ihnen spielt. Das Gegenmodell zu dieser lässigen Coolheit etabliert sich in den Fünfzigerjahren: Es sind die erhitzten, heißen, zitternden, schwitzenden Stimmen des Rock ’n’ Roll. ­Little ­Richard und Chuck Berry singen nicht nur mit voller Inbrunst und Leidenschaftlichkeit, sie übersteigern den Gesang in ebenso schlichtes wie elementares Geschrei. „A wop bop a loo lop a lop bam boo“, schreit ­Little ­Richard 1955 ins Mikrofon, als er seinen Song „Tutti Frutti“ aufnimmt: ein ekstatischer Schlachtruf, eine stimmliche Geste der sexuellen Direktheit – und der aggressiven Rebellion gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse, gegen die rassistische Diskriminierung, der sich mit lässiger Coolheit nicht beikommen lässt.

Lässig, cool, erotisch – Frank ­Sinatra sang scheinbar gänzlich mühelos, sein Spitzname: The Voice. Foto: Gijsbert Hanekroot Redferns, Getty Images

Little Richard bringt etwas Anarchisches, Kreatürliches mit auf die Bühne, das alle Konventionen des Kunstgesangs sprengt. Auch das wird seither zu den Merkmalen großer und magischer Popstimmen gehören: Sie singen nicht nur, sie schreien auch, sie gurren und husten, und wenn man ganz nah an ihnen dran ist, dann kann man auch den Atem hören, der sie belebt und beseelt. Paul ­McCartney überführt die Schreitechniken von ­Little ­Richard in seinen Gesang bei den Beatles. Wie sein Vorbild will er mit seinem ekstatischen Vortrag auch sein Publikum zur Ekstase bringen. Das Ergebnis: schrilles Teenie-Gekreische bei allen Beatles-Konzerten.

Große Stimmen im Pop, wie sie ARTE im Summer of Voices mit Dokumentationen und Filmen zelebriert (mehr ab Seite 32), sind immer auch politisch, sie zerreißen die Konventionen der sie umgebenden Welt. Sie drücken Wut aus, aber auch leidenschaftliches Glück. Oder sie bringen den in sich ruhenden Stolz eines unbeirrbaren Widerstands gegen die Welt zur Erscheinung, wie man ihn bei der größten Soulsängerin der vergangenen Jahrzehnte hört, bei der 2018 verstorbenen ­Aretha ­Franklin. „Respect“ fordert sie mit ihrer vollen, körperlichen, fest auf dem Boden der Welt und der Tradition ruhenden Stimme 1967 in der Cover-Version eines Songs von ­Otis ­Redding. Und in ihrer Interpretation wird dieses Lied zur Hymne der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und des Feminismus der Siebzigerjahre. Der Respekt, den ­Aretha ­Franklin hier fordert, ist musikalisches Empowerment. Er soll ebenso der afroamerikanischen Community gelten in ihrem Kampf gegen den Rassismus der Mehrheitsgesellschaft – wie den Frauen, die in dieser Community wie auch überall sonst unter der patriarchalen Männlichkeit leiden.

Am Kältepol der Popmusik
Große Stimmen im Pop können die Menschen aus ihrer Einsamkeit reißen und ihnen das Gefühl geben, dass sie nicht allein sind; sie können aber diese Einsamkeit auch auffangen und verstärken und gerade dadurch Trost spenden und Hoffnung. Im selben Jahr, in dem ­Aretha ­Franklin den „­Respect“ beschwört, debütiert die deutsche Sängerin Nico auf dem ersten Album von The Velvet Underground mit der traurigsten und verlorensten Stimme, die man sich vorstellen kann; und ihr zweites Soloalbum „The Marble Index“, das 1968 erscheint, klingt, als wäre es am Kältepol der Popmusik aufgenommen. ­Nico wird mit ihrem klirrenden Gesang zum Prototyp einer Tradition der stimmlichen Kälte, die etwas mehr als zehn Jahre später ihren Höhe- oder auch Tiefpunkt in der Musik der britischen Band Joy Division und ihres Sängers ­Ian ­Curtis findet: Dessen – wiederum an Frank Sinatra geschulter – Gesang klingt so, als ob sich ein sehr alter, sehr weiser, schmerzgegerbter Mensch im Körper eines Jünglings befindet.

Traurig und verloren, aber betörend wirkte ­Nicos Gesang bei The Velvet Underground. Foto: Kerstin Rodgers Redferns, Getty Images

Für die apokalyptische Stimmung am Beginn der Achtzigerjahre hat die kalte Stimme von ­Ian ­Curtis exemplarische Kraft; es gibt aber auch hier – wie im dialektischen Doppel von ­Aretha ­Franklin und ­Nico – eine Kehrseite. Diese findet sich im heißen, den Faden von ­Little ­Richard wieder aufnehmenden Gesang des jungen ­Prince, der 1982 verkündet: Wenn man sich schon am Vorabend des Welten-Endes befindet, dann kann man auch eine große Party steigen lassen: „Party like it’s 1999“. Die Stimme von ­Prince ist auf eine Weise ekstatisch, dass in ihr nicht mehr nur der menschliche Gesang und das kreatürliche Schreien (man höre „­Darling ­Nikki“ von dem 1984er Album „­Purple Rain“) ineinander verschwimmen. Sondern auch die „männliche“ und die „weibliche“ Intonation: Im Falsett von ­Prince, in seinen hechelnden und kieksenden Extemporationen kollabiert der überkommene Gegensatz zwischen den geschlechtlichen Prägungen.

So ist es in den Achtzigern durchweg: Der politische Charakter des Gesangs findet sich in diesem Jahrzehnt in den Überschreitungen „körperlich“ gegebener Konventionen. ­Debbie ­Harry, die Sängerin der New-Wave-Gruppe ­Blondie, die kühle Jamaikanerin ­Grace ­Jones und die britische Exzentrikerin Kate Bush – sie alle erobern sich stimmliche Räume jenseits überkommener sexueller Zuschreibungen; und sie eröffnen damit eine Tradition, die bis in die Gegenwart reicht. Die berührendste Stimme der Nullerjahre gehört der Transgender-Künstler*in ­Antony ­Hegarty alias ­Anohni; wer diesen Gesang zum ersten Mal hört, der kann ihn keinem „natürlichen“ Geschlecht mehr zuordnen und auch keiner „schwarzen“ oder „weißen“ Stimmtradition. ­Anohnis Stimme ist hoch­politisch, weil sie gleichzeitig individuell-intim ist und hochartifiziell – sie löst gewissermaßen die „natürliche“ Verbindung zwischen dem Gesang und dem Körper auf, wie sie bei ­Amy ­Winehouse noch einmal zum Inbegriff einer großen Popstimme wird.

­Grace ­Jones lässt Gendergrenzen hinter sich – auch stimmlich. Foto: Richard Corkery, NY Daily News Archive, Getty Images

2006, im selben Jahr, in dem ­Winehouse mit dem Album „Back to Black“ ihren Durchbruch erlebt, erscheint auch das Debüt des britischen Produzenten ­Burial: Darauf hört man über melancholisch klickernden Rhythmen und zerstäubenden Melodien bloß noch Echos von körperlos gewordenen Stimmen, die der Wind über verlassene Industrieviertel treibt. Wie Frank ­Sinatra sich zu ­Little ­Richard verhält oder ­Aretha ­Franklin zu ­Nico, so bildet ­Burial die dialektische Kehrseite zu ­Amy ­Winehouse. Auch bei ihm ist die Stimme ein Spiegel von Körper und Seele. Bloß dass sich bei ­Burial alles längst in Auflösung befindet: In einer seelenlos gewordenen Welt gibt es kein Zurück mehr zu dem Versprechen, dass sich die Zerrissenheit der menschlichen Existenz durch Musik heilen lässt.