Mode als Haltung

Er zeigt das Unfertige und haucht gewöhnlichen Materialien neues Leben ein: ­Martin
­Margielas Entwürfe prägen die Modewelt bis heute. Was treibt den belgischen Mode­schöpfer an, der sich noch nie der Öffentlichkeit gezeigt hat?

Martin Margiela
Die Tabi-Schuhe werden für die Galliera-Ausstellung zu ­Margielas Ehren vorbereitet. Foto: Reiner Holzemer Film

Er ist ein Mysterium der Modeszene: Martin Margiela, geboren am 9. April 1957 im belgischen Leuven, gilt als einer der einflussreichsten Designer der heutigen Zeit. Viele betrachten ihn als den letzten Revolutionär der Modewelt. Mal lässt er seine Models in rote Farbe treten, bevor sie den Backstage-Bereich verlassen, um Spuren zu markieren. Mal schickt er seine Entwürfe in der Plastikfolie auf den Laufsteg, in der sie angeliefert wurden, weil er es aufregend findet, sie darunter zu sehen. Ein anderes Mal brennt er mit einem Bügeleisen einen großen Fleck auf einen weißen Zweiteiler, damit er mehr nach ­Margiela aussieht. Und mal tüncht er sein ganzes Atelier, inklusive Mobiliar, Telefone und Fernseher, in seine Lieblingsfarbe Weiß. Über zehn Jahre sind seit seiner letzten Show vergangen. Seine provokanten Kreationen prägen die Industrie bis heute. Doch der „Banksy of Fashion“ bleibt ein Mythos: Sein Gesicht enthält er der Öffentlichkeit vor. „Natürlich war es so, dass seine Mode und sein Stil schockierten. Er zeigte sich nie – seine Person gab Rätsel auf. So etwas übt große Anziehungskraft aus“, sagt Modedesigner Jean Paul Gaultier über seinen ehemaligen Assistenten. Wer also verbirgt sich hinter den ikonischen Designs?

Als Sohn eines polnischen Friseurs und einer Belgierin wuchs ­Martin ­Margiela in der belgischen Stadt Genk auf. Die wichtigste Person für ihn war wohl seine Großmutter, eine Schneiderin, die ihre eigenen Kleider nähte: „Ich sah ihr stundenlang dabei zu, wie sie Schnittmuster anfertigte und Stoffe zuschnitt. Ich war fasziniert von dieser Frau, die mir auf all meine Fragen mal richtige, mal falsche Antworten gab“, erinnert sich der Modeschöpfer in einem ARTE-Interview. Als er mit sieben Jahren im Fernsehen eine Pariser Modenschau sah, wurde ihm klar: „Modedesigner in Paris. Das will ich werden.“ Prompt nahm er sich seine Barbiepuppen vor und schnitt ihren Stiefeln die Spitzen ab. Auch wenn seine Eltern dadurch peinlich berührt waren, hielt er an seinem Traum fest. Nach dem Besuch der Kunstschule studierte er ab 1976 an der Königlichen Akademie für schöne Künste in Antwerpen. In dieser Zeit entstand unter anderem eine Jacke aus Geschirrhandtüchern – ein Konzept der Dekonstruktion, das ­Margiela in seiner ganzen weiteren Laufbahn anwandte. So kreierte er etwa eine Weste aus zerbrochenen Tellern (1989), ein Top aus Plastiktüten (1990), einen Pullover aus Armeestrümpfen (1991) und ein Oberteil aus recycelten Handschuhen (2001). Die Freiheit des Experimentierens erlernte das Enfant terrible mitunter während seiner Ausbildung bei Jean Paul ­Gaultier von 1984 bis 1987: „Sie basierte auf dem Prinzip: Arbeite mit dem, was du hast.“

Martin Margiela: Mythos der Mode

Dokumentarfilm

Mittwoch, 29.9. — 23.25 Uhr
bis 27.11. in der Mediathek

Martin Margiela
Avantgardistisch: Ein Model präsentiert Martin ­Margielas Prêt-à-porter-­Kollektion im Jahr 2009. Foto: picture-allianc_dpa

Mode als „gesellschaftliche Bewegung“
Die Originalität spiegelte sich nicht nur in den 41 Kollektionen, die der Designer für sein 1987 mit ­Jenny ­Meirens gegründetes Modehaus Maison ­Martin ­Margiela entwarf. Auch den Schauplätzen der Laufstege waren keine kreativen Grenzen gesetzt. So fanden seine Shows etwa bei der Pariser Heilsarmee statt, wo die Gäste und Journalisten ihre Plätze auf Waschmaschinen einnahmen, oder auf einem Parkplatz, vor dem die Models mit Patschuli parfümiert wurden, um dem neutralen Ort etwas entgegenzusetzen. Manche Models trugen Schmuck aus gefärbtem Eis, das auf ihren Körpern schmolz, wodurch sich die Farbe der Kleidungsstücke während des Auftritts veränderte. ­Stella ­Ishii, Partnerin beim Launch von ­Margiela in den USA, vergleicht es „mit dem Debüt von ­Andy ­Warhol, der die Kunstwelt in vielerlei Hinsicht aus den Angeln gehoben hat“. Für die Zuschauer glichen ­Margielas Fashion Shows einem Rockkonzert. Die Präsentation der Frühjahr-/Sommer-Kollektion 1990 in einer Pariser Banlieue empfand ­Margiela, der mitunter für Luxusbrands wie Hermès arbeitete, als „die wohl magischste Modenschau“ seiner Karriere. ­Margiela und ­Meirens war es wichtig, dass auch die Anwohner aus dem Viertel anwesend waren: „Die eine Hälfte bestand aus den Modefachleuten, die mit offenen Mündern dasaßen, während die anderen schrien, klatschten und sangen. Es war ein großartiges Spektakel.“

Martin Margiela
Skizzen zum Jabot, einer am Kragen befestigten Rüsche. Foto: ARTE

Kritiker wie die Redakteurin ­Carla ­Sozzani interpretieren den Designer, der für seine Mode zugleich Stars wie Kate Moss und Laien bei Street Castings engagierte, als „eine gesellschaftliche Bewegung“, die spiegelte, was auf der Straße vor sich ging. Über die Geheimhaltung seiner Persönlichkeit sagt der Couturier: „Ich wollte meine Kollektionen nicht ständig kommentieren müssen. Sie sollten für sich sprechen.“ Ende 2009 zog sich ­Margiela zurück, nachdem er sein Unternehmen sukzessive an ­Renzo ­Rosso, Eigentümer der Diesel-­Gruppe, verkauft hatte. Heute malt er und arbeitet bildhauerisch. Die Frage, ob er in der Modewelt alles gesagt habe, was er sagen wollte, beantwortet der Künstler dennoch mit: „Nein!“