Wie verarbeitet man es, in einem Land aufgewachsen zu sein, in dem Politiker offen Gewaltfantasien gegenüber jungen Mädchen äußern? Wie lebt man als Kunstschaffender dort, wo Kunst nur dann Zuschüsse erhält, wenn sie regierungskonform ist? Und wie wird man als Regisseur nicht selbst Teil der politischen Maschinerie? Der Weg, den Regisseur Nadav Lapid für sich gewählt hat: Er verließ Israel, um im Ausland Filme zu drehen, die sich kritisch mit seiner Heimat auseinandersetzen.
Vor fünf Jahren bekam Nadav Lapid für „Synonymes“ (2019) als erster Israeli den Goldenen Bären auf der Berlinale verliehen. Zu dieser Zeit lebte er bereits in Paris. Israel hatte er als junger Mann verlassen, unmittelbar nach seinem dreijährigen Militärdienst. „Ich erkannte, dass ich wegmusste aus Israel, um meine Seele zu retten“, sagte der Regisseur damals im Spiegel-Interview. Von dieser Geschichte handelt auch „Synonymes“: Getrieben von der eigenen Vergangenheit und Identität läuft ein junger Israeli (Tom Mercier) durch die Straßen von Paris, rezitiert fanatisch französische Vokabeln, um jegliches Hebräisch in sich auszulöschen. „Erbärmlich! Vulgär! Verabscheuenswürdig!“, sind die Zuschreibungen, die der Protagonist für sein Heimatland übrig hat. Am Ende muss er einsehen, dass sich die eigene Herkunft nur schwer abstreifen lässt.
Von einer Identitätskrise erzählt auch Lapids wutbehafteter Film „Aheds Knie“ (2021), den ARTE im Mai zeigt. In gerade einmal zweieinhalb Wochen entstand das Drehbuch. Einen Monat zuvor war Lapids Mutter gestorben, die sonst für ihn als Filmeditorin gearbeitet hatte. „Rückblickend war das wohl die instabilste Phase meines Lebens. Aber mein persönlicher Verlust und die Trauer wirkten wie ein Katalysator“, erinnert sich der Regisseur. Wütend gemacht hatte ihn vor allem die Blindheit der Israelis, sagt der Regisseur im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Ein Großteil seiner Landsleute sei nicht kritisch genug und hinterfrage nicht, was ihnen von staatlicher Seite vorgegeben werde. „Diese Indoktrination gleicht einer Zensur von innen. Ich will die Leute aufrütteln und ihnen die Augen öffnen. Im echten Leben kannst du das nicht unmittelbar tun, aber du kannst es über deinen Film versuchen.“
VERZWEIFLUNGSSCHREI IN DER WÜSTE
„Aheds Knie“ wirkt mit seiner Dringlichkeit und Unmittelbarkeit wie ein filmgewordener Weckruf. Der Titel referiert auf Ahed Tamimi, eine palästinensische Aktivistin, die sich gegen das israelische Militär aufgelehnt hatte. Der rechts-religiöse Parlamentarier Bezalel Smotrich hatte 2018 gefordert, der damals 17-Jährigen die Kniescheibe zu zerschießen. „Aheds Knie“ handelt von Y (Avshalom Pollak), der an einem Filmprojekt über Tamimi arbeitet. Y wird von Yahalom (Nur Fibak), einer jungen Mitarbeiterin des Kulturministeriums, in eine israelische Wüstensiedlung eingeladen, um dort seinen Film vorzuführen. Sie legt dem Filmemacher ein Formular mit kulturpolitisch gewünschten Themen vor – eine Anspielung auf die Zensurmaßnahmen, die Ex-Kulturministerin Miri Regev während ihrer Amtszeit in Israel umsetzen wollte und die auch Lapid zu spüren bekommen hatte. „Was aber ist mit dem Verlust der Seele dieses Landes und seiner Verrohung?“, fragt Y mit zunehmender Verzweiflung. Die Kamera rückt in dieser Szene nah an ihn heran, macht jede Distanz unmöglich, schwenkt zitternd umher und imitiert so den Seelenzustand des Protagonisten, der immer mehr mit der eigenen Rolle ringt und letztendlich in seiner Wut implodiert.
„Synonymes“ sollte Nadav Lapids letzter Film über sein Heimatland sein. „Ich wollte Israel begraben“, sagt er im Interview. Dann folgte doch „Aheds Knie“. Nach dem Terrorangriff der Hamas im Oktober 2023 verspürt Lapid nun abermals das Bedürfnis, einen Film über die Konflikte in Israel zu drehen. „Einige Dinge sind schwer aufzugeben“, sagt er. Der neue Film soll von einem exzentrischen Künstlerpaar handeln.