»Die Nato ist wie eine Familie«

Der Ukrainekrieg eint die Nato als Verteidigungsbündnis nach turbulenten Jahren, sagt Sicherheitsexperte Simon Koschut.

Illustration Nato zur ARTE-Doku
Illustration: Klawe Rzezcy für ARTE Magazin

Als der französische Präsident Emmanuel Macron den Nordatlantikpakt 2019 für „hirntot“ erklärte, war der Aufschrei groß. Denn seit die Nato im Zuge der Eindämmungspolitik gegen die Sowjetunion 1949 gegründet worden war, zählte sie zu den zentralen Säulen von Europas Außenpolitik. Nach dem Ende des Kalten Krieges verlor das Verteidigungsbündnis jedoch mehr und mehr seine Kernfunktion; es kam gehäuft zu Spannungen unter den Mitgliedsländern. Russlands Angriff auf die Ukraine verlangt dem Bündnis nun eine verloren geglaubte Einigkeit ab. Das ARTE Magazin spricht mit Nato-­Experte ­Simon ­Koschut über die Zukunftsperspektiven des Bündnisses – und über Gefühle im Militär. 

Front auf hoher See – Die Ostsee im Kalten Krieg, heute und damals

Geopolitische Doku

Dienstag, 11.7. — 20.15 Uhr
bis 8.10. in der Mediathek

ARTE Magazin Herr Koschut, Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung unter anderem mit Emotionen in der Weltpolitik: Kommt die Kommunikation von Gefühlen zu kurz?

SIMON KOSCHUT Definitiv. Das Problem ist, dass die – meist männlich dominierte – Sicherheitspolitik als überwiegend strategischer Bereich gehandhabt wird. Es besteht die Angst, durch den Ausdruck von Emotionen den Primat des Rationalen zu verlassen und Konflikte zu verschärfen oder gar auszulösen. 

ARTE Magazin Im Rahmen Ihres aktuellen Forschungsprojekts haben Sie Gespräche mit Nato-Mitarbeitenden geführt, um herauszufinden, wie offen im Dienst über Emotionen gesprochen wird. Zu welchem Resultat sind Sie gelangt?

SIMON KOSCHUT Ich konnte eine ganz deutliche Zweiteilung beobachten: Unter Diplomatinnen und Diplomaten ist es nach wie vor so, dass Gefühle stark ignoriert oder unterdrückt werden, weil es nicht gängig oder opportun ist, dem Gegenüber zu zeigen, was man fühlt oder möchte. Unter den Mitgliedern des militärischen Bereichs ist das interessanterweise anders, denn die Gefühlskultur ist bei ihnen viel wichtiger und stärker. Allerdings gibt es hier eine Ausnahme: Emotionen wie Angst oder Furcht werden eher tabuisiert oder durch Mut oder Tapferkeit ersetzt.

ARTE Magazin Wie zeigt sich das konkret?

SIMON KOSCHUTIm Beruf von Militärangehörigen geht es um Fragen von Leben und Tod. Die Fähigkeit zur Empathie ist bei Angriffen genauso entscheidend wie physischer Schutz. Das macht auch die Nato zu einer Art Gefühlsgemeinschaft. Die Mitglieder des Bündnisses zeigen Solidarität gegenüber Verbündeten und erwarten umgekehrt Solidarität nach dem Motto: Wir teilen deine Bedrohungsängste vielleicht nicht, aber wir verstehen sie und fühlen mit. Es ist ein bisschen wie in einer Familie – es gibt Spannungen und Meinungsverschiedenheiten, aber am Ende erhält man die uneingeschränkte emotionale Unterstützung, die es braucht, um sich sicher zu fühlen.

ARTE Magazin Sie haben 2021 einen Fachbuchbeitrag unter dem Titel „The End of NATO as We Know It?“ veröffentlicht – in Anlehnung an einen Zeitungsartikel des ehemaligen US-Außenministers und Friedensnobelpreisträgers ­Henry ­Kissinger von 1999. Stand das Bündnis zum wiederholten Mal vor dem Aus?

SIMON KOSCHUT Ja, es durchlebte eine ernste Krise. US-Präsident Donald Trump hatte der Nato da gerade das Existenzrecht abgesprochen. Meine These war, dass sich das Bündnis von einer Wertegemeinschaft zu einem Zweckbund zurückentwickelte. 

ARTE Magazin Wie fällt Ihre Analyse heute aus?

SIMON KOSCHUT Die Nato wurde wiederbelebt. Das Bündnis funktioniert über gemeinsame Werte, Interessen und zu bewältigende Bedrohungen. Der Ukrainekrieg hat es nicht nur legitimiert, sondern zu seiner ursprünglichen historischen Funktion zurückgeführt: der kollektiven Verteidigung Europas. Die Nato findet zu ihren Wurzeln – das wirkt revitalisierend.

ARTE Magazin Angesichts des Angriffskriegs von Russland wurde das Reformkonzept „NATO 2030“ erweitert. Wie will das westliche Militärbündnis sich in Zukunft aufstellen?

SIMON KOSCHUT Bricht man diese Reform auf einen konkreten Nenner herunter, dann geht es darum, die Nato noch politischer zu machen. Sie ist zwar nie ein reines Militärbündnis gewesen, aber möchte zukünftig noch stärker politische Maßstäbe setzen – im Sinne einer europäischen Friedensordnung. Die Ukraine ist ein Beispiel für die Forderung nach einem politischen Bündnis: Um die liberale Demokratie in Europa zu verteidigen, müssen wir handeln – etwa durch Waffenlieferungen. 

ARTE Magazin In der Dokumentation „Front auf hoher See“ zeigt ARTE, welche Auswirkungen der Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens auf den Ostseeraum hat. Welche Folgen hat das für Russland?

SIMON KOSCHUT Im Grunde ist mit diesem Ereignis das eingetreten, was Wladimir Putin vermeiden wollte: die Stärkung und Erweiterung der Nato. Zwei Ziele des Ukrainekrieges waren, mithilfe von Drohungen zu verhindern, dass noch mehr Staaten in den westlichen Einflussbereich gelangen, sowie das Bündnis zu spalten. Mit Finnland und Schweden schließen sich jetzt Staaten der Nato an, die militärisch jahrzehntelang bündnisfrei geblieben waren und nun ihre Neutralität aufgeben. 

ARTE Magazin Die Vormachtstellung der USA in der Nato führt regelmäßig zu der Kritik, Europa sei zu schwach. Jetzt soll Deutschland laut „NATO 2030“ eine Vorreiterrolle im Bündnis einnehmen. Ist diese Entwicklung realistisch?

SIMON KOSCHUT Den Wunsch, Deutschland noch stärker einzubinden, gibt es schon lange – die Bundesrepublik zählt ja bereits heute zu den größten Geld- und Truppenstellern. Für noch mehr Engagement fehlen jedoch nicht die Ressourcen, sondern der politische Wille. Forderungen der Nato werden in Deutschland immer sehr kontrovers diskutiert, wie auch die Debatte um Waffenlieferungen in die Ukraine zeigt. Dabei sind sich alle einig, dass wir gerade in einen Systemkonflikt hineinschlittern, praktisch in einen zweiten Kalten Krieg.

Zur Person
Simon Koschut, Professor am Lehrstuhl für Internationale Sicherheitspolitik

Simon Koschut forscht und lehrtan der Zeppelin Universität in Friedrichshafen unter anderem zur Rolle internationaler und regionaler Sicherheitsorganisationen sowie zu Emotionen in der Weltpolitik.