Das fängt ja gut an. Bei Patrick Melrose daheim in London klingelt das Telefon, der Anrufer ist offenbar ein Freund der Familie. Er habe eine schlechte Nachricht zu überbringen, sagt er. Melroses Vater David sei in New York verstorben und das sei bestimmt ein großer Schock! „Ja, so was in der Art“, antwortet Melrose abwesend, während sein Blick zu Boden fällt, wo er eine Spritze entdeckt, nach der er sich bückt. Dabei streift die Kamera seinen Hemdsärmel, auf dem in der Ellenbeuge ein Fleck Blut zu sehen ist. Dann legt Melrose den Hörer auf und lächelt sanft in sich hinein, während gerade der Refrain eines der bekanntesten Cat-Stevens-Songs ertönt: „Oh, Baby, Baby, it’s a wild World …“
Bereits die erste Szene der Miniserie „Patrick Melrose“ macht unmissverständlich klar, dass man sich in einer Welt befindet, die man vielleicht nicht zwingend als wild bezeichnen würde, dafür aber als herausragend kaputt. Die gesamte erste Folge handelt im Grunde nur davon, wie der heroinabhängige Melrose, Anfang 20 und offenkundig wohlhabend, von London nach New York reist, um den Leichnam seines Vaters in Empfang zu nehmen. Doch selbst dem toten Vater gegenüberzutreten, löst in ihm einen derartigen Widerwillen aus, dass er stattdessen von einem Drogenexzess zum nächsten torkelt. Es ist nicht schön, aber natürlich eine großartige Rolle für den markanten Briten Benedict Cumberbatch, der sich als Patrick Melrose durch alle denkbaren Betäubungszustände spielt.
Eine Lebensgeschichte in fünf Bänden
Erdacht hat sich die Figur der englische Schriftsteller Edward St Aubyn. 1992 erschien der erste Band seiner Melrose-Romane – eine Lebensgeschichte in fünf Bänden, von denen der vierte, „Muttermilch“, 2006 auf der Shortlist des Booker Prize stand. Regisseur Edward Berger und Drehbuchautor David Nicholls haben jedes der fünf Bücher als eine einstündige Episode verfilmt, wobei sie allerdings mit dem zweiten Band „Schlechte Neuigkeiten“ beginnen. Das dürfte zum einen daran liegen, dass Benedict Cumberbatch als Star der Serie ansonsten erst in der zweiten Episode aufgetaucht wäre, hat aber wohl auch dramaturgische Gründe, weil die zweite Folge, die auf dem ersten Band „Schöne Verhältnisse“ beruht, sogar noch eine Idee deprimierender ist als der Serienauftakt. Der darin gezeigte Blick in die Vergangenheit spielt im Jahr 1967, Melrose ist etwa sieben Jahre alt und verbringt den Spätsommer mit seinen Eltern auf dem Landsitz der Familie in Frankreich. Die Hitze ist flirrend, die Mutter wie üblich betrunken, während der garstige Vater, ein verhinderter Komponist, Akkorde ins Klavier hämmert. Als die Mutter das Haus verlässt, begibt sich der Vater in sein Schlafzimmer, ruft den zitternden Jungen zu sich und schließt die Tür, während die Kamera sich langsam von außen zurückzieht.
Die bittere Pointe der Geschichte ist, dass es sich bei Patrick Melrose eigentlich um Edward St Aubyn selbst handelt. 1960 geboren ist er der Sohn einer der bekanntesten Adelsfamilien Englands. Sein Vater war Roger Geoffrey St Aubyn und seine Mutter Lorna Mackintosh, die sich vornehmlich um die Organisation von Wohltätigkeitsveranstaltungen kümmerte, während ihr Gatte den Sohn im Alter von fünf bis acht wiederholt vergewaltigte. Doch die Brillanz der Melrose-Romane wie auch der Miniserie liegt darin, dass sie nicht allein von einem Kindesmissbrauch und seinen Folgen erzählen – beiden Erzählformaten gelingt vielmehr ein umfassendes kompromissloses Porträt des englischen Adels und somit die Kehrseite dessen, was in Serien wie „The Crown“ und „Downton Abbey“ gezeichnet wird, wenn man so will.
Die dritte Episode springt schließlich ins Jahr 1990: Melrose ist bereits seit geraumer Zeit trocken und clean, ist aber gesellschaftlich auf Distanz geblieben, was sich nun aber ändern soll, weil er zu einem Fest geladen ist, zu dem auch Princess Margaret erwartet wird. Was sich entfaltet, ist eine Dinnerparty aus der Hölle, eine Feier der Selbstherrlichkeiten und Demütigungen einer Klasse, die aus Ekel vor sich selbst einen Hass auf die Welt entwickelt hat und sich nur durch Alkoholismus, Empathielosigkeit und Grausamkeit über Wasser hält.
Der Berliner Regisseur Edward Berger hat seine in Deutschland bislang nur wenig bekannte Serie bereits 2018 gedreht – nach seinem Erfolg mit „Deutschland 83“, aber vor seinen beiden Oscar-Filmen „Im Westen nichts Neues“ und „Konklave“. Mit Hugo Weaving als Vater, Jennifer Jason Leigh als Mutter und vielen anderen Topbesetzungen ist „Patrick Melrose“ bis in die Nebenrollen glänzend durchdacht und verströmt exakt den eisigen und sarkastischen Ton, den Edward St Aubyn in seinen Romanen vorgegeben hat. Berger scheint dabei mit jeder Folge ein anderes Genre abzudecken – von Drogendrama bis Gesellschaftssatire –, so als hätte er in verschiedenen filmischen Formen nach Hoffnung gesucht, aber nicht wirklich gefunden.






