»Raffinierter Realismus«

Sie gleichen Fotografien: Wie Canalettos weltbekannte Veduten unsere Vorstellung von der europäischen Stadt bis heute prägen. Kurator Stephan Koja im Gespräch. 

Blick auf Pirna vom Schloss Sonnenstein aus, 1750er Jahre. Foto: Fine Art Images/Heritage Images/Getty Images

Bernardo Bellotto, geboren am 20. Mai 1722 in Venedig, nannte sich ­Canaletto – nach seinem Onkel ­Giovanni ­Antonio ­Canal, der seinerzeit ebenfalls ein berühmter Städtemaler war. Wie wurde der aus einfachen Verhältnissen stammende Bellotto zu einem der berühmtesten Vedutenmaler? Was zeichnete seine Maltechnik aus? Kurator ­Stephan ­Koja, dessen Ausstellung „Zauber des Realen: ­Bernardo Bellotto am sächsischen Hof“ ab Ende Mai in Dresden zu sehen ist, gibt spannende Einblicke.

 

Stephan Koja, Kurator und Direktor der Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden: Zusammen mit Yvonne Wagner kuratiert er die Ausstellung „Zauber des Realen: Bernardo Bellotto am sächsischen Hof“ (21.5.bis 8.8.). Foto: David Pinzer/SKD

Die Stadt als Bühne: Der Maler Bellotto genannt Canaletto

Kunstdoku

Sonntag, 22.5. — 16.10 Uhr  

bis 19.8. in der Mediathek

arte Magazin Was verstehen Sie unter dem Canaletto-Blick?

Stephan Koja Es ist der ikonische Blick, den ­Bernardo ­Bellotto alias ­Canaletto 1748 in seinem Ölgemälde für den Kurfürsten auf die Dresdner Innenstadt wirft – über die Elbe auf die Augustus­brücke, die Hofkirche und die Frauenkirche. ­Bellottos Veduten prägen das Image der Stadt bis heute. Sie haben bei der Rekonstruktion der Altstadt und ihrer Farbgebung wesentliche Dienste geleistet.

arte Magazin Wie lässt sich seine Maltechnik beschreiben?

Stephan Koja Verglichen mit Zeitgenossen wie ­Johann ­Alexander ­Thiele, der barocke Ideallandschaften inszenierte, greift bei ­Bellotto ein neuer, nüchterner, präziser Blick. Von seinem Onkel ­Canal erlernte er etwa den Gebrauch der Camera obscura: Sie wirft ein seitenverkehrtes, auf dem Kopf stehendes Bild in einer dunklen Kammer auf die gegenüberliegende Wand. Mit ihrer Hilfe fertigte er Einzelstudien an, komponierte sie in einer großen Zeichnung, die er quadrierte und dann auf die Leinwand übertrug – ein hochpräziser Vorgang, mit dem er jedes Detail minutiös festhielt. 

 

Dresden mit Augustusbrücke, vom rechten Elbufer stromaufwärts aus, um 1750. Foto: DeAgostini/Getty Images

arte Magazin Inwiefern wirken seine Veduten bis heute nach? 

Stephan Koja Durch diesen starken Realismus. Auch wenn er Szenen mal bereinigt, Gebäude raffiniert zur Seite rückt oder mit zwei Fluchtpunkten zusammenschiebt, um die Gesamtkomposition klarer zu machen oder auf sein Bildformat zu bringen, wie am Marktplatz von Pirna: ­Bellotto versuchte, die Realität wiederzugeben – eine Auffassung, die ins 19. Jahrhundert vorausweist. Perspektivische Tricks verwendete er im Sinne einer höheren künstlerischen Wahrheit. Es geht uns doch allen so: Wenn wir eine Landschaft betrachten, sehen wir nicht die Telefonmasten und Leitungen. Aber wenn wir ein Foto machen, stören sie. Zuweilen wird nachträglich retuschiert. Unser Blick nimmt selektiv wahr – was nicht heißt, dass er falsch wahrnimmt, sondern eben das Wesentliche. Genau das hat Bellotto getan. Deshalb sind seine Ansichten so wertvoll, weil sie uns eine wirkliche Vorstellung geben von der Architektur und vom Leben in der Stadt im 18. Jahrhundert. Die Bilder sind so präzise, dass man teilweise auf den Meter genau festlegen kann: Hier muss er gestanden haben. 

arte Magazin Wie gelang es Bellotto, aus dem Schatten seines Onkels zu treten? 

Stephan Koja Im Wesentlichen dank einer Romreise. In einer Serie von Rom-Veduten fand er seinen eigenen Stil: Mit kühleren Farben, härterem Licht, größerem Detailreichtum. ­Bellottos Schatten sind immer dramatisch, Licht ist ein Hauptakteur in seinen Bildern. Er legte einen Glanz über die Landschaften, der bis heute fasziniert. Das macht seine Wirkung aus. Den Blick richtete er zuweilen auf das weniger Elegante: ­Canals Bilder sind aufgeräumt, während ­Bellotto Spaß daran hatte, einen pinkelnden Hund zu zeigen oder einen Mann, der an die Wand macht.

 

Parma: Römisches Capriccio mit Turm und Stadttoren, 1742–1747. Foto: DeAgostini/Getty Images

arte Magazin Lassen sich Bezüge zu seiner venezianischen Herkunft erkennen?

Stephan Koja Ja, denn Stadtbilder waren in Venedig für die Reisenden der Grand Tour ein begehrtes Souvenir und ein florierendes Geschäft. ­Bellotto brachte das Capriccio – eine Kunstform, in der man reale und fantasierte Architekturen mit topografischen Begebenheiten kombiniert – aus Venedig mit. Auch die Staffage­figuren, das Platzieren von Edelleuten, Bürgern und Bauern in Kunstwerken, entspricht dem venezianischen Typus. Bellottos Bilder wurden immer vielfiguriger, in seiner letzten Phase in Warschau malte er Gemälde mit rund 3.000 Figuren.

arte Magazin Welches Ziel verfolgt Ihre Retrospektive?

Stephan Koja Wir möchten Bellottos Persönlichkeit und Selbstverständnis greifbar machen. Und mit unserem Bestand von 36 Bildern den Fokus auf seine Zeit in Dresden legen. 1747 malte er für den Kurfürsten 14 Ansichten der Dresdner Innenstadt und elf Ansichten von Pirna. Fünf Ansichten von Königstein konnte er nicht mehr abliefern, der Siebenjährige Krieg kam dazwischen. Er war sehr effektiv, malte Bilder in wenigen Wochen. Die Formate sind so riesig, dass man an ihnen spazieren gehen kann.

 

Markusplatz, Venedig, 1780er Jahre. Foto: Heritage Arts/Heritage Images/Getty Images