Schönheit und Finsternis liegen in der Kunst von Shirin Neshat nah beieinander. Da singt etwa eine Frau vor den leeren Rängen eines Theaters, aus ihrem Mund kommen wortlose, aber atemberaubende Töne. Die Videoarbeit „Turbulent“ (1998), aus der diese Szene stammt, war ein Kommentar zu Neshats Heimatland: Schließlich ist es Frauen im Iran bis heute verboten, in der Öffentlichkeit zu singen. Religion, Macht und den weiblichen Körper macht sie immer wieder zum Thema. Ihre schwarz-weißen Fotografien sind mit persischen Schriftzeichen bedeckt; Videos gleichen Traumsequenzen, in denen der Stachel politischer Realitäten steckt. In den Iran kann Neshat deshalb heute nicht mehr reisen. Sie lebt in den USA, wohin ihre Familie sie einst zum Studieren geschickt hatte. Trotzdem dauerte es bis 2019, ehe sie das neue Zuhause zum Gegenstand ihrer Kunst machte. Für die Serie „Land of Dreams“ fotografierte sie mehr als 100 Menschen, deren Porträts sich zu einem Panoptikum der US-Gesellschaft fügen. Aus einer dazugehörigen Videoarbeit entstand der Kinofilm „Land of Dreams“ (2021): eine Satire mit Sheila Vand, Matt Dillon und Isabella Rossellini, die von Überwachungskultur und verschütteten Erinnerungen handelt.
ARTE Magazin Frau Neshat, träumen Sie?
Shirin Neshat Sehr viel sogar. Ich habe eine regelrechte Traum-Obsession. Mich interessieren die Muster meiner Träume. Oft taucht darin meine Mutter auf. Ich schätze, ich nehme ihren Verlust vorweg, denn sie wird älter. Natürlich ist da auch noch die gekappte Verbindung zum Mutterland. Ich habe Träume immer als eine Manifestation meiner Ängste und Befürchtungen verstanden. Spricht man mit anderen Menschen, sieht man, dass sich die Themen sehr ähneln.
ARTE Magazin Befassen Sie sich mit der Geschichte der Traumdeutung?
Shirin Neshat Weniger mit akademischen Ansätzen wie der Psychoanalyse. Mich interessiert eher, wie die amerikanischen Ureinwohner mit Träumen umgehen, denn mir geht es um etwas Intuitiveres. Das Bemerkenswerte an Träumen ist, dass man an Orte zurückkehrt, an denen man gewesen ist, Menschen trifft, die man kennt – und dennoch ergibt nur weniges einen Sinn. Ähnlich sehe ich auch meine Filme: Sie sind in der Realität verankert, aber rätselhaft.
ARTE Magazin In Ihrem surrealen Kinofilm „Land of Dreams“ reist eine junge Frau durch das texanische Hinterland. Für eine staatliche Behörde soll sie dort die Träume der Bürger erheben.
Shirin Neshat Ich dachte, das wäre ein guter Einstieg für eine Arbeit über die USA. Träume überschreiten schließlich alle kulturellen Grenzen. Natürlich liegt eine gewisse Ironie darin, dass die Vereinigten Staaten als Land der Träume gelten. Es ist der Ort, der allen Menschen eine Chance gibt. Doch während der Präsidentschaft von Donald Trump entstand eine große Feindseligkeit gegenüber Einwanderern. Die Identität Amerikas sollte neu definiert werden. Ich lebe seit den 1970er Jahren in den USA und erkannte das Land nicht wieder. Als jemand, der nicht in seine Heimat zurückkehren kann, erschien mir das beängstigend.
ARTE Magazin Ihre Hauptfigur Simin ist Fotografin mit iranischen Wurzeln, kleidet sich sogar ein bisschen wie Sie. Wie viel von Ihnen steckt in ihr?
Shirin Neshat Tatsächlich fällt mir immer häufiger auf, dass die Frauen in meinen Arbeiten einen bestimmten Look haben: Sie tragen oft Schwarz, sind eher zierlich. Vor allem aber zeigt „Land of Dreams“ die USA aus der Perspektive einer iranischen Frau, die ihre eigene Historie mit sich herumträgt, nämlich die der blutigen Revolution im Iran. Es ist auch meine Geschichte. Darum ist es ein sehr persönlicher Film. Daran musste ich denken, als ich mir gestern Abend „Paris, Texas“ von Wim Wenders angeschaut habe. Auch er blickt von außen auf dieses Land. Als deutscher Regisseur hat er einen zutiefst amerikanischen Film gedreht.
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