Weniger ist mehr

Was bringt die neue Arbeitswelt, in der das Dauer-­Homeoffice zur Normalität gehört – mehr Freiheit oder mehr Stress? Die Bilanz nach zwei Jahren Pandemie fällt durchwachsen aus.

Illustration: Vidam

Was für Friedrich Engels das britische Manchester war, war für den deutsch-amerikanischen Sozialphilosophen ­Frithjof ­Bergmann die US-Stadt Flint. Der Ort der Erkenntnis. Hier erlebte er Anfang der 1980er am Beispiel des Autoproduzenten General Motors, was es bedeutet, wenn die Automatisierung von Produktionsprozessen eine neue Schwelle erreicht. Für die Menschen, die Gesellschaft, den Kapitalismus. Auf Grundlage seiner Beobachtungen in Flint schrieb ­Bergmann sein Buch „Neue Arbeit, neue Kultur“ (2004).

Das Werk gilt als Grundstein für die sogenannte New-Work-Bewegung, die sich in den 2010ern zu einem diversen, globalen Phänomen entwickeln sollte. ­Bergmanns Thesen, die mehr Selbstständigkeit und Freiheit für Arbeitende sowie die Abkehr von klassischer Lohnarbeit propagieren, passen perfekt zur sich rasant verändernden Jobwelt des Digitalen Zeitalters. Auch im Silicon Valley gilt der Philosoph, der im Frühjahr im Alter von 90 Jahren starb, als Visionär.

In den Jahren vor der Pandemie überboten sich Coaches und Unternehmensberater – angelehnt an ­Bergmanns New-Work-Konzept – mit Schwärmereien von der Zukunft der Arbeit („digitaler, freier, besser“). Pflegekräfte, Tischlerinnen, Hausmeister und Kassiererinnen fühlten sich von ihren Versprechungen zwar wenig abgeholt. Alle, die an fünf Tagen pro Woche acht Stunden auf einen Computerbildschirm starren, schöpften aber Hoffnung.

Auch ihre Chefs nickten verständnisvoll – nur um beim nächsten Team-­Meeting jede Anfrage bezüglich Homeoffice unter Generalverdacht zu stellen. Zu Hause arbeiten, bei freier Zeiteinteilung? Das war ihnen lange suspekt. Doch dann kam Corona – und die freiere, selbstständigere Arbeit 4.0 begann in praxi. Für Millionen Menschen, über Nacht.

Die Zahl der angebotenen Arbeitsplätze zu Hause – beziehungsweise irgendwo mit Internet – hat sich laut Umfragen seit Frühjahr 2020 in Deutschland mehr als verdoppelt. Dabei zeigen sich in den jeweiligen Branchen ganz unterschiedliche Vor- und Nachteile der Telearbeit. Die häufigsten Probleme der mobil Arbeitenden benennt eine aktuelle Forsa-Umfrage: Demnach klagt im Home­office gut ein Drittel über gesundheitliche Probleme wegen mangelhafter Ausstattung des heimischen Arbeitsplatzes.

Ebenfalls ein Drittel der Befragten moniert längere oder für sie unübliche Arbeitszeiten. Was zusätzlich mürbe macht: überlastete Internetverbindungen sowie stundenlange, sich überlappende Zoom-Meetings – im schlimmsten Fall mit Video-Präsenz-Zwang. Dazu die vielen Ablenkungen: nörgelnde Partner („Die Wäsche?“), schreiende Kinder („Hunger!“), der täglich klingelnde Paketbote („Für die Nachbarn!“). Untersuchungen bestätigen, dass die Mehrfachbelastung im Homeoffice zunimmt – und teils Stress verursacht, den es im regulären Bürobetrieb so nicht gibt.

Welche Auswirkungen das haben kann, zeigt die ARTE-­Dokumentation „­Multitasking – Wie viel geht gleichzeitig?“ im November eindrücklich. Neurowissenschaftler weisen darin nach, dass sich das menschliche Gehirn auf maximal zwei komplexe Tätigkeiten gleichzeitig konzentrieren kann. „Die Idee des Multitasking-­fähigen Mitarbeiters ist direkt an ein aktuell verbreitetes Management-Modell gebunden: Ich muss jederzeit für alle Aufgaben verfügbar und erreichbar sein und alles gleichzeitig können“, sagt der auf Digitalisierung spezialisierte, französische Soziologe und Anthropologe ­Dominique ­Boullier in der Dokumentation. Er warnt: „Wenn man die Leute zwingt, so zu arbeiten, führt das direkt in Burn-out-­Situationen.“

Die Erkenntnis, dass in der Arbeitswelt weniger meist mehr ist, hat die New-Work-Bewegung längst verinnerlicht. So betonte ­Frithjof ­Bergmann stets, dass die Menschen erst herausfinden müssten, was sie „wirklich, wirklich wollen“, um „Arbeit und Individuum in Einklang zu bringen“. Das führt aktuell zwangsläufig zu der Frage: Wie viel Homeoffice wollen wir wirklich? Der Psychologe ­Markus Väth, einer der führenden deutschen New-Work-Verfechter, kritisiert etwa den Heilsbringerstatus des Homeoffice: „Wir Menschen sind soziale Wesen – und ausgerechnet bei einer so wichtigen Angelegenheit wie Arbeit sollen wir uns langfristig ins eigene Kabuff verkriechen?“, schreibt er in einem Beitrag des Magazins Capital.

Ein allseits nützlicher Ansatz für die digitale Zukunft der Arbeit könnten hybride Modelle sein, wie sie der Großteil der Arbeitnehmer und Arbeitgeber derzeit ohnehin favorisiert. Demnach bliebe das Homeoffice nach der Pandemie eine alltäglich realisierbare Option, Büros würden in Absprache flexibel und freiwillig frequentiert.

Multitasking: Wie viel geht gleichzeitig?

Wissenschaftsdoku

Samstag, 20.11. — 22.00 Uhr
bis 17.2.2022 in der Mediathek